(m)ein Glück teilen

Ein Post-it klebt noch in der Ecke des Raumes. Mein Glück teilen steht darauf, um das m ist eine Klammer, also auch ein Glück teilen. Es war gestern Abend erst, dass eine weitere Gruppe intuitives Schreiben mit heilsamen Nebenwirkungen gestartet ist. Anstöße und Anlässe habe ich die Gruppe genannt. Mit der Aufgabe, schreibt vier Post-its zu Was gab den Anstoß? und klebt sie irgendwo in den Raum, steigen wir ein. Das gerade mein Post-it hängen geblieben ist.

Glück.

Ich erinnere mich, wie ich schon als 18-jährige über das Glück philosophierte in den Briefen, die ich an den Freund in Liberia schrieb. Es ist ein Glück, im Dorf zu sitzen, während die Blitze das Schwarz der Nacht durchzucken, wie diese Briefe Grundlage für mein Schreiben wurden, um den früh Verstorbenen noch weiterleben zu lassen. Ich erinnere mich an meine Visionen, wie ich aus seinen Briefen eine Performance kreiere. In einem Stadium dieses Vorhabens philosophierte ich über das Briefe schreiben: JEDER BRIEF IST EIN GEHEIMNIS.

Szenische Lesung nenne ich jetzt die Form, die meine Vision gefunden hat. Eine veröffentlichte Erzählung, die ich in einer Lesungsdramaturgie aufführe. Ich lese und ich bin die 18-jährige von damals, die in meiner Erzählung Johanna heißt. Ich spüre ihren jugendlichen Überschwang, Übermut trifft es vielleicht noch besser und lasse ihrem überbordenden intensiven Innenleben auf dem Papier freien Lauf, schenke ihr rückhaltloses Begehren, dass ihrer poetischen Lust Flügel verleiht: …beschreibe mich längs lang die Rückseite meiner Oberschenkel hinauf / verirre dich im Dickicht meiner Schamhaare, lasse sie in den Stürmen des Begehrt Werdens schwanken, überlasse sie ihrem körperlichen Begehren, dass sich nicht an ihr Drehbuch hält, lasse sie abstürzen, verzweifeln, Wunden lecken, trotz ihrer Versuche sich zu schützen gibt es keinen doppelten Boden und folge ihr, wenn sie aufbricht zu ihrer Liebe und zu ihrer Angst zu stehen, wenn sie wie ein Schwann die afrikanische Welt aufsaugt. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen von dem vagen Bedürfnis, etwas mit diesen Briefen anzufangen bis zu der verdichteten Form. Ich erlebe es als großes Glück, meine Leidenschaft als Schreibende, als Lesende, als Inszenierende und als Performende auszuleben.

Ich erinnere mich an die letzte Lesung in Waldstatt, bei der ich in einem alten Appenzeller Haus plötzlich mitten in Afrika bin, erinnere mich an das gemalte Bergmassiv in meinem Rücken und das große Gemälde der Frau, die auch aus den Anden kommen könnte, die mir zur Seite steht. Nach den Rückmeldungen denke ich, dass erfüllte und unerfüllte Sehnsucht und die ersten Male unbeholfenen Liebens auch die 80-jährige Zuhörerin wieder in die Jugendliche verwandelt haben, die sie einmal war, dass jede erzählte Geschichte sich mit den brach liegenden Erinnerungen aller Zuhörenden verbindet, die einen Moment lang eine unausgesprochene geteilte Erfahrung werden.

Die sehnsuchtsvoll im verborgen Liebende, die von den Lavaströmen der Leidenschaft überrollt wird, das war vielleicht mein unbemerkt allumfassendes Glück des Aufbruchs.

Mein Glück teilen als einen Raum, in dem Menschen ihre Puzzlestücke ausbreiten können, die sie schreibend finden. Mir klingen noch die Stimmen der Lesenden meiner gestrigen Gruppe nach und ich erinnerte mich schreibend an die Stimme eines Studienfreundes, der in mich verliebt war. Sie klang wie ein tiefer Fluss, der unaufhörlich über etwas plätschert, an etwas reibt.

All diese gelesenen Worte, sie schmecken wie frisch gepflückte Erdbeeren, unschuldig, rot und süß, taumeln wie frisch geschlüpfte Küken, verletzlich und bereit zu fliegen, verströmen ihren Duft nach Zimt und Koriander, wie frisch zubereitetes Essen, ich kann mich nicht entziehen. Mein Glück teilen als eine Offenbarung, dass ich immer wieder neu staune, was in wenigen Minuten Schreibzeit entsteht, was groß ist, wenn ich es lasse, was etwas in mir anstößt, wenn ich es lasse. Mein Glück teilen, dass mir schreibend widerfährt, wenn ich der selbst gestellten Aufgabe folge:

Beschreibt einen beliebigen Moment, einen beliebigen Sinneseindruck und folgt mit dem Stift in der Hand der Spur in die Schatzkiste der Erinnerungen.

vom 06.05.2022

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