die Schreibende und ich 16

Karsamstag, mein Osterfeuer brennt im Kamin. Ich sitze davor und schaue in die Flammen. Meine Ostermeditation. Die Glocken läuten. Die Schreibende kommt ins Wohnzimmer.

die Schreibende: Frohe Ostern, du sitzt da ja ganz andächtig.

ich: Ja, ich fühle mich auch irgendwie andächtig. Auf jeden Fall geht mir viel durch den Körper.

die Schreibende: Durch den Körper. Das gefällt mir, ist ja auch viel besser, als wenn alles nur durch den Kopf geht.

ich: Ich bin immer noch mit den Erfahrungen aus the week beschäftigt, habe ich dir davon schon erzählt.

die Schreibende: Naja, ich habe schon mitbekommen, dass du dreimal in einer Woche die gleichen Freunde zu Besuch hattest und dass ihr Filme geschaut und darüber gesprochen habt. Richtig konspirativ hat das gewirkt.

ich: Ja, ein Paar aus Belgien und Frankreich, Frédéric Laloux und Helene Gerin, die jetzt in einem Ecovillage bei New York leben, haben dieses Format, dass sie the week nennen, ins Leben gerufen. Und tatsächlich geht es darum, in einer Gruppe innerhalb einer Woche eine dreiteilige Dokumentation anzuschauen und sich darüber austauschen. Angefangen hat es, als die beiden begannen sich absichtsvoll zu vertiefen in das, was durch den Klimawandel auf uns zukommt. Sie wollten einfach wissen, was die Zukunft für sie und ihre Kinder bringt, um sich nicht mit der Ausrede davon zu stehlen, sie hätten nichts gewusst, wenn ihre Kinder mal fragen, was sie beigetragen haben, um die Erde bewohnbar zu erhalten. Die Erkenntnisse wirklich zuzulassen, das war erschütternd. Sie haben sie mit Freunden geteilt, was sehr emotional war. Erstaunlicher Weise hat es ihnen Energie und Entschlossenheit geschenkt, ihren Weg zu finden, um zu einer zukunftsfähigen Welt beizutragen. So war es am Ende auch befreiend. Immer haben die beiden versucht zu verstehen, wie es kommt, dass soviel Wissen vorhanden ist und so wenig Handlungen folgen. Bei ihnen war die emotionale Betroffenheit ein Schlüssel, dass ein inneres Bedürfnis entstand, wirklich das eigene Potential zu nutzen, um die Welt zu einem zukunftsfähigen Ort zu machen. Und es machte auch Freude, verband sie mit vielen interessanten, unterschiedlichen Menschen in Europa und Nordamerika, mit denen sie sich gemeinsam auf dem Weg in die Richtung lebenswerte Zukunft machten. Sie fokussierten sich auf Europa und Nordamerika, weil sie dort ihre kulturelle und gesellschaftliche Beheimatung sehen und deshalb fundierter beitragen konnten. Die Freunde haben wiederum ihre Freunde dazu eingeladen. Um diesen Prozess auch noch mehr Menschen als den Freunden der Freunde zugänglich zu machen, produzierten sie im Zeitraum von drei Jahren drei Dokumentationen mit großer Sorgfalt, um den eigenen Prozess der emotionalen Betroffenheit durch die Konfrontation mit den relevanten zur Verfügung stehenden Informationen im Wohnzimmer der Zuschauenden erlebbar zu machen. Dabei betonen sie immer wieder, dass die Gespräche im Anschluss das Entscheidende sind.
Der Weg ist der eines U. Erst geht es nach unten, bevor die Energie frei wird. Am zweiten Filmtag, in der Talsohle, geht es um die Frage, wie sind wir da gelandet und gibt es noch Hoffnung? Da geht es dann um die old story des more. Wie wir über Werbung das Gefühl des nicht genug auf allen Ebenen erzeugen, um den eigenen Mangel über Konsum dann zu kompensieren. Wie dieses Glück durch more zu Massentierhaltung, Monokulturen, lineare Produktionsketten mit Erschöpfung der natürlichen Ressourcen und Einsamkeit führt. Plakativ in meinen Worten zusammengefasst. Und dann werden im dritten Teil die vielen Ansatzpunkte ins Handeln zu kommen exemplarisch von Einzelnen, die bereits auf dem Weg sind, vorgeführt. Die beiden sind wirklich auf eine sehr aufrichtige, integre, emotionale Art während der drei Dokumentationen mit den Zuschauenden in Kontakt und halten durch ihre Impulse und Regeln auch den Gesprächsrahmen. Das ist schon sehr berührend. Auch das in den drei Dokumentationen immer wiederholt Menschen zu Wort kommen, die dann quasi auch mit ihren Erfahrungen uns dadurch begleiten, hat mir gutgetan. Es waren sehr unterschiedliche Menschen, von der Schülerin bis zum Großvater, vom Unternehmer über die Angestellte bis zum Arbeiter, unterschiedlicher Hautfarben und Nationalitäten. Es ist nicht eine Frage einer spezifischen Subkultur, sondern es geht alle an und alle können auf dem Weg sein.

Für mich hat es einen großen Unterschied gemacht, das ich unmittelbar Gemeinschaft, Unterschiedlichkeit und Verbundenheit bei der Durchführung von theweek erlebt habe. Ich habe mich ermutigt gefühlt, das zu tun, was mir entspricht, was Energie freisetzt, was mich in Bewegung bringt, was mich womöglich zu einem besseren, da verbundenem und sinnstiftendem Leben führt. Also weg von Flug- und Fleischscham, hin zu Aufbruch und Initiativkraft. Es endet nicht mit verdrossener Konsumbegrenzung, sondern mit Lebendigkeit, guter Laune, auf dem Weg der vielen kleinen Schritte von vielen Menschen in die richtige Richtung. Da müssen wir nicht warten, bis die Politik sich ändert, sondern können bemerken, dass jede kleinste Handlung Auswirkungen hat, positive Ansteckung nach sich ziehen kann, es zu positiven Tipping Points führt, die dazu beigetragen haben, dass die Menschheitsgeschichte schon wieder und wieder neu geschrieben wurde. Die Auflösung der Monarchien, der erfolgreiche Kampf für Wahlrecht der Frauen, selbst die neueren technologischen Entwicklungen, die Probleme in der Vergangenheit gelöst haben, sind Beispiele hierfür.

die Schreibende: Und jetzt? Was machst du aus deiner Erfahrung?

ich: Also mit Papiertüte zum Bäcker gehen wie du, das habe ich tatsächlich nicht geschafft. Ich habe einfach immer erst daran gedacht, als ich in der Bäckerei an der Theke stand. Aber ich freue mich mehr an dem, was ich bereits lebe, weil ich begreife, dass ich einen Unterschied mache, dass es auf mich ankommt. Mein Lebensstil trägt bei, steckt andere womöglich an. Ich würdige anders als bisher, was ich schon tue, schaue nicht mehr nur auf das kollektive Desaster. Gerade spreche ich begeistert, wenn es passt von theweek – nachzuschauen auf www.theweek.ooo und ermutige Menschen, eine week zu organisieren. Außerdem freue mich über alles, was ich noch vertiefter beitragen werde, von dem ich jetzt noch gar nicht weiß.

die Schreibende: na schön, dann weißt du ja jetzt, wie es sich für mich anfühlt, Müll zu vermeiden und mich nur noch mit ausgewählten Dingen zu umgeben.

ich: Ja, ja, ja, ist doch schön, dass wir beide mit aller Unterschiedlichkeit auf dem Weg sind. Ich habe noch aus einer anderen Ecke Inspirationen bekommen, Being the change changes the being, aber da erzähle ich dir dann ein andermal davon. Jetzt schaue ich noch in die Glut meines Feuers.

Die Schreibende und ich 15

Ein Regentag. Die Schreibende kommt nach Hause.

ich: Hey, ich habe ganz vergessen, dir gestern zu sagen, dass ich noch etwas herausgefunden habe über uns.

die Schreibende: Du hast etwas über uns herausgefunden? Hat jemand einen Eintrag über uns geschrieben in Wikipedia?

ich: Haha. Da sind wir eher nicht gefährdet, ich habe etwas herausgefunden über das, was ich dachte, was wir machen: einen Blog schreiben. Als ich neulich davon erzählte, wurde ich eines Besseren belehrt. Ein Blog sei interaktiv, man würde auf eine Schreibimpuls reagieren und Kommentare, die kommentiert werden verfassen und so weiter. Da konnte ich nur mit den Schultern zucken, sagte, ich dachte, ein Blog sei, etwas regelmäßig auf einer Website zu veröffentlichen. Nein, nein, das sei kein Blog, das sei eine Website, auf der ich regelmäßig etwas hochladen würde, das hätte mit einem Blog nichts zu tun, bekam ich zur Antwort. Also dann, dachte ich leicht beschämt, sollte ich mich vielleicht nochmal damit beschäftigen, welche Kriterien zu erfüllen sind, wenn ich einen Blog schreibe.

die Schreibende: Und? Was hast Du herausgefunden?

ich: Das interessanteste fand ich, dass Blog die Abkürzung von Web-Log, einem im Internet öffentlich gemachten Tagebuch ist. Also das persönliche Logbuch, dessen Einträge Posts heißen und das von Microblogging Plattformen wie Twitter oder Instagram abgelöst wurde.

die Schreibende: Mit deiner Ambition monatlich etwas zu posten bist du wahrscheinlich außerhalb der üblichen Fütterungsrituale der Blogger und natürlich mit einem Blog auf einer Website auch altmodisch, deine Kinder würden abwinken.

ich: Ja, zudem muss ich gestehen, dass ich mich überhaupt nicht an dem netzwerkenden Geschehen beteilige. In homöopathischen Dosen lese ich andere Blogs, bin manchmal bewegt, berührt, inspiriert. Meist freue ich mich aber über meine analogen Gruppen von Autoren und schreibenden Menschen, mit denen ich mich austausche und denke, das reicht.

die Schreibende: Also, lassen wir es oder was?

ich: Nein, im Gegenteil. Wir plaudern noch ungehemmter darauf los, oder?

die Schreibenden: Um die zu quälen, die deinen Blog abonniert haben? Hast du mir nicht gerade noch erzählt, dass du einen interessanten Foto Blog wieder abbestellt hast, weil es drei bis vier Mal in der Woche neue Beiträge gab?

ich: Ja, stell dir vor, es gibt Blogger, die haben eine Einstellung, dass unser neuester Beitrag immer gleich mit einem Like, einer Zustimmung versehen wird, was wieder dazu führt, dass du als Leserin für deren Blog beworben wirst. Also es geht um Wege, möglichst viele Follower zu bekommen, so heißt es ja jetzt bei Instagram und co. Dann kannst du auch noch Werbung dazwischenschieben und mit deinem Blog Geld verdienen.

die Schreibende: Ach, bitte keine Kapitalismuskritik jetzt. Ich finde, wir können uns an dem Logbuch orientieren. Ich habe nämlich ein neues Format. Nicht mehr mein Tag in sieben Sätzen, sondern sieben Absätze beginnen mit Ich habe Zeit. Ich sag dir, das ist phänomenal, das Leben auf diese anachronistische Art zu feiern. Pass auf, hier kommen meine Einträge für gestern:

Ich habe Zeit, Ingwer für den Porridge klein zu schneiden und die würzige erfrischende Schärfe schon über meine Fingerkuppen aufzunehmen, die das Ingwerstückchen halten.

Ich habe Zeit, die kleinen Tupperdosen in den verschiedenen Schubladen und Schrankfächern zu suchen, um mal wieder auf dem Markt Streichcremes zu kaufen.

Ich habe Zeit den Schnabel zu erkennen, in der Tulpe, die mir in der Vase ihren Kopf auf dem Küchentisch zuneigt. Es ist ein geschwungener prächtiger Schnabel, ganz in rot. Sie flüstert mir zu, dass es nichts Schöneres gibt, als zu erblühen. „Erblühe, verschenke dich, verströme dich, gib dich hin, freue dich an deiner Schönheit“.

Ich habe Zeit mein Gesicht mit Reinigungsmilch zu waschen, belebend, im Anschluss Gesichtswasser aufsprühen, prickelnd, Happy Aging Gesichtscreme auf Stirn und Wangen mit dem Zeigefinger tupfen und mit der Hand verstreichen, nährend.

Ich habe Zeit, die alte Brotpapiertüte in die Satteltasche zu stecken. Am Marktstand mit den Dinkelbackwaren verkauft der Bäcker selbst. Das letzte Mal hat er mir erklärt, wie sein Amaranth Dinkelbrot so fluffig und feucht bleibt. Mir hat es geschmeckt und ich kaufe es wieder, krame meine zerknitterte Papiertüte heraus: „Hier, die habe ich heute mitgebracht, da brauche ich keine neue“, sage ich entschlossen. Vielleicht fragt er sich auch, was ich für ein Problem habe, als ich ihm die Papiertute hinstrecke. Aber nein, er nimmt sie entgegen und sagt strahlend, als hätte ich ihm ein Geschenk gemacht, „ich schenke dir ein Nussbrötchen, das kann ich zwar nicht jedes Mal machen, aber heute.“ Das nenn ich mal positive Verstärkung. Ich freue mich doppelt.

Ich habe Zeit, den Regen durch den Stoff meiner Hose auf meinen Beinen zu spüren, während ich mit dem Fahrrad durch die Pfützen fahre, zu denken, die Natur freut sich und ich mich auch. Ab in die Sonne ist out.

Ich habe Zeit, obwohl knapp dran, auf dem Weg zur Arbeit mir einen Cappuccino aus dem Automaten im Bioladen zu lassen. Nie ohne meinen Kaffeebecher, meine Devise. Der Milchschaum ist lecker, den ich mir von den Lippen lecke.

ich: Na, da hast du ja ganz schön vorbildlich dich in Szene gesetzt.

die Schreibende: Wieso? Darf ich mich nicht über meine Alltagserfolge freuen? Auch Recycling von Papier kostet Energie, die es nicht braucht, wenn ich die Tüte einfach wieder benutze.

ich: Damit rettest du die Welt sicher nicht.

die Schreibende: Es geht um mein Lebensgefühl, sweet heart, nicht darum, die Welt zu retten. Es fühlt sich auf eigenartige Weise befreiend an, Müll zu vermeiden. Es ist ähnlich wie beim Rucksackreisen, wo du dich zwangsläufig auf das Wesentliche beschränken musst. Es ist einfach ein gutes Gefühl, nicht soviel überflüssigen Verpackungsmüll in der Wohnung herumfliegen zu haben, der wieder entsorgt werden muss. Du kannst mich jetzt auslachen, aber ich kann spüren, dass es mir besser geht, wenn ich Konsumentscheidungen treffe, wenn ich Produkte und Nahrungsmittel kaufe, die unter halbwegs bewussten Bedingungen produziert wurden. Es hängt einfach alles mit allem zusammen. Mich zieht nichts mehr in einen normalen Supermarkt und ich finde Plastikverpackungen zunehmend unangenehm.

ich: Hola, die Waldfee, da bist du ja ziemlich wachstumsfeindlich, wenn du nur noch so bewusst, quantitativ reduziert und qualitativ hochwertig unterwegs bist.

die Schreibende: Genau, die Wirtschaft muss sich dann neue Konzepte ausdenken, als auf Wachstum zu setzen. Aber das ist ja nochmal ein ganz anderes Feld, das du betrittst, wenn du mich als wachstumsfeindlich bezeichnest. Mir tut es auf jeden Fall gut und es geht mir wunderbar.

ich: Aber mal zurück zu deinem Logbucheintrag für heute.
Ich habe Zeit, Dir zuzuhören und dich insgeheim dafür zu schätzen. Danke.

die Schreibende und ich 12

Es ist der Samstag vor dem vierten Advent, ich liebe es die Kerzen anzuzünden und stundenlang in der Küche am Tisch zu sitzen, während die Amaryllis sich weiter öffnet, das weich geworden Wachs am Rand der Kerzen ebenso zu sich hingebenden Kelchen mutiert, bis es wieder dunkel wird. Ich freue mich, dass ich tatsächlich in diesem Jahr auf 12 Blogeinträge komme, wenn es auch mit dem monatlich nicht so ganz hinkommt. Ich finde, darauf, kann ich mit der Schreibenden anstoßen.

Die Schreibende ist gar nicht zu Hause.

Nächster Tag. Der vierte Advent. Im Radio habe ich auf Deutschlandfunk eine Rede von Salman Rushdie gehört. Das habe ich aber erst herausgefunden während des Features, weil ich angeschaltet hatte, als es schon lief. Ich fand interessant, wie die Stimme des Sprechers ausführte, warum die Menschen die Götter erschufen. Nämlich um Leerstellen mit Geschichten zu füllen, um Fragen zu beantworten: Wo komme ich her? Wie sollen wir leben? Und dann lässt der Sprecher den ganzen Götterhimmel in den unterschiedlichen Mythologien die Bühne betreten. Odin, der beim Kampf mit dem Fenriswolf umkommt, Freya, die von einem Feuerschwert getötet wird (oder es war irgendwie anders), sind mir noch in Erinnerung. Also sie gehen mit Glanz und Glorie unter im pantheistischen Universum, sie sind machtbesessen, lüstern, heimtückisch, kränkbar, rückhaltlos und sie wollen von den Menschen bewundert werden, jenseits von Vorbild und Moral. Besonders gefällt mir die Stelle, in der er formuliert, dass die pantheistischen Universen ihre Sollbruchstellen, an denen sie sich überlebt haben, schon mit in ihre Geschichten hineingeschrieben haben. Da gibt es keine Tabus. Und am Ende kommt der Untergang.

Aber wer braucht heute noch Religion und Mythologie, wenn die Frage wo wir herkommen von der Wissenschaft beantwortet wird. Und erst die monotheistischen Religionen, die mit ihrer Zuckerbrot und Peitsche Haltung nichts als Krieg auf dem Gewissen haben und dabei noch die Moralkeule schwingen. Rushdie untersucht, wieso seine Freiheit zu denken und zu hinterfragen so angefeindet wird. Ihm geht es viel um Freiheit.

Nach der Sendung höre ich, dass die wiederholt wurde, weil am 15. August eine Messerattacke bei einem öffentlichen Auftritt auf Salman Rushdie ausgeübt wurde. Krass.

Ich teile mit der Schreibenden meine Gedanken, als sie nach Hause kommt.

die Schreibende: Was, das hast Du mitgeschnitten, während Du inhaliert hast, weil Du kaum schlucken konntest? Und das findest Du so interessant, dass Du es mir erzählst?

Ich: Ach, manchmal erreichen mich Gedanken, faszinieren mich und machen mich nachdenklich. Du kennst mich doch. Also die Mutigen, die für Freiheit ins Feld ziehen, leben ganz schön gefährlich.

Aber eigentlich wollte ich mir dir feiern, dass es tatsächlich 12 Blogeinträge werden.

die Schreibende: Dann lass uns doch lieber auf die Mutigen anstoßen, auf die, die sich in die Arena der Öffentlichkeit stellen, die Streitbaren, die Sichtbaren, die Hörbaren und die Lesbaren.

Ich: Genau. Auf die Mutigen dieser Welt.  

Und wir sind lesbar geworden. Vielleicht sind wir ja doch ein gutes Team.

Die Schreibende schaut mich von der Seite an. Ich könnte ihren Blick als ein Schmunzeln deuten.

Allen, die zu den Lesenden gehören. Viel Wärme, Kerzenschein und dankbare Verbundenheit, weil jetzt zu der Schreibenden und mir auch die Lesenden gehören.

Und die vielen Facetten des Mutes, die es zu entdecken gilt, die nehme ich mit ins neue Jahr.

 Die Reisende 6

„Wherever you go, and whatever we do, we have an impact. The trick is to make sure, it’s a positive one.“

Das steht in der Visitor Charter der Tin Coast, dem Küstenabschnitt bei St Just, welcher aufgrund der verlassenen Kupfer- und Zinnminen zum Weltkulturerbe ernannt wurde. Der Satz gefällt mir, auch wenn ich mir nicht schlüssig bin, ob diese verlassene Landschaft, wo der Mensch einem Maulwurf gleich unzählige Gänge ins Gestein gebohrt hat, um die Mineralien aus den Adern der Erde herauszuholen, ob diese zurückgelassenen Verwundungen nun Mahnmal sein sollen oder Zeugnis menschlicher Größe. Es fasziniert mich, mit welchem unglaublichen Kraftaufwand der Mensch in der Lage ist, die Naturgesetze außer Kraft zu setzen. Die emporragenden gemauerten Schornsteine, ich kann nicht anders, als sie auch als phallische Denkmäler männlicher Potenz zu betrachten, die in den Himmel ragen. So spüre ich beides. Faszination und Grauen.
In den Tiefen des Gesteins gibt es über 1000 Minenschächte und hunderte von Meilen unterirdische Tunnel. Überall stehen Schilder, dass es gefährlich ist die Wege zu verlassen, weil Schächte wie unsichtbare Fallgruben vom Ginster überwuchert, den Wanderer verschlucken können.  Ich stelle mir vor, wie Männer in den Gruben schufteten, während arsenhaltige Dämpfe bei den Schmelzvorgängen aufstiegen und es immer noch weitere Schritte dauerte, bis die wertvollen Mineralien herausgelöst waren. Auch wenn die Erde hier wie von einem Narbengewebe durchzogen beschrieben wird von Raynor Winn, der Autorin des Salzpfades, so räumt sie auch ein, dass wir ohne dieses Erbe ärmer wären.

Als wir zum zweiten Mal durch die Landschaft wandern, finde ich sie nicht weniger faszinierend. Zwei Menschen hocken auf einem der unzähligen Steinhaufen mit Hämmern, klopfen Steine auf, betrachten sie, werfen sie wieder zurück auf den Boden. Es sind ein Mann und eine Frau.

„Komm, lass und die beiden fragen, nach was sie suchen, bestimmt können sie uns erzählen, was es zu finden gibt“, sage ich zu den Kindern.

„Hallo, nach was halten Sie Ausschau? Wir sind gänzlich unbedarft. Sieht so aus, als wären Sie Experten.“

Wie ahnungslos ich bin, wird mir erst im Laufe des sich anschließenden Gesprächs bewusst.

Ich habe die Geröllhalden aus Abraum gar nicht sofort als solche wahrgenommen, sondern als Teil der Landschaft, die sie in den Jahrzehnten geworden sind. Jetzt fällt es mir erst wie Schuppen von den Augen, diese unzähligen Berge von Gesteinsbrocken.

„Ja, kommt, wir zeigen Euch, nach was ihr Ausschau halten müsst, meine Tochter ist ganz großartig darin, noch kupferhaltige Steine zu finden“, sagt ein braun gebrannter älterer Mann mit sonnengegerbter Haut und einem Zahnlückenlächeln.

„Bis die Minen geschlossen wurden, habe ich mitgearbeitet. Ich kam als junger Mann hierher und habe mein Leben als Bergarbeiter verbracht. Habt ihr auch Werkzeuge dabei?“.

Als wir verneinen, komme ich mir vor, als wäre ich ohne Korb und Messer in einem Wald, wo sich nur Pilzsucher treffen. Aber ich lerne ja gerade erst, dass es etwas zu finden gibt.

Nach was halten wir Ausschau?

Der Mann erzählt, dass seine Tochter in jeder freien Minute hier draußen sei, weil es einfach gut tue, ein Ausgleich zur Arbeit hier an der frischen Luft, sie habe ein Händchen für die Steine.

„Was habt ihr denn schon gefunden?“

Ich zeige ihm zwei Steine, die mir in der Nähe der beiden mit Blick auf den Boden schön vorkamen.

Ein kurzer Blick, ein Schlag mit dem Hammer, ein fallen lassen, die taugen nichts. Nicht essbar, für den Fall, dass es Pilze wären.

„Kommt mit, ich zeige Euch, wo es noch bessere Steine zu finden gibt“, sagt der Mann und er bewegt sich behände über die Geröllfelder, auch wenn ich auf einmal ahne, dass er gut schon an die 80 Jahre alt sein könnte.

Er zeigt uns die Einbuchtungen, die auch Einstiege zu den Adern seien, die längs unter der Erdoberfläche entlanglaufen. Mineralische Adern, die sich durch die Tiefe ziehen und die Menschen schürften und schlürften, stülpten das Innere unter dem Meeresgrund heraus, klopften, brachen, zerstampften, kalzinierten, schmolzen, brannten, wandelten, oxidierten.

„Die Voraussetzung aller Schächte sind Gesteinsschichten, die dicht genug sind, um kein Wasser durchzulassen.“ Ich verstehe etwas von Killerstone. Er klopft und zeigt uns blau schimmernde oxidierte kupferhaltige Oberflächen. Er hebt Steine auf, die weißlich, gelblich glänzen.

„Foolsgold“, sagt er lächelnd.
Zinn ist dunkel und dicht, Kupfer schimmert goldener als das Foolsgold. Es ist eine Lektion in Mineralogie und Chemie.

„Hier bei mir lernt ihr mehr, als in wochenlangen Studien“.
Ich schaue und staune, auch wenn mir komplett die Grundlagen fehlen, um das Gehörte zuordnen zu können.

„Die Deutschen haben ganz hervorragende Mineralogen und waren führend auf dem Gebiet der Steinkunde“, und er erzählt von berühmten deutschen Steinbrüchen.
Bei mir klafft einzig eine große Lücke des Nicht Wissens. Ich nehme mir vor, angesteckt von seiner Begeisterung, über Mineralogie und Bergbau in Deutschland und Cornwall nachzulesen. Dabei entdecke ich, dass der Bergbau eine ganze eigene Sprache entwickelt hat, die ich selbst auf Deutsch gänzlich neu lernen müsste und ich bin etwas getröstet, dass ich von seinen Ausführungen nur die Hälfte verstanden habe.

„Die Mädchen waren gerade mal 12 Jahre, die hier arbeiteten“, sagt er und langsam setzt sich erst das Bild zusammen, dass die Steine aus dem Erdinneren auf die Oberfläche geschüttet wurden, aufgeklopft von Mädchen, die Steine mit Mineralien dann zu den nächsten Stätten der weiteren Verarbeitung gebracht haben.

„Wieso sehen sie sofort, ob ein Stein interessant ist oder nicht?“

Er lächelt mich wissend an.

„Jahrzehntelange Erfahrung. Mein Leben und meine Leidenschaft“.

Bevor die Mine endgültig geschlossen wurde, versuchten sie nochmal diese wieder trocken zu legen, da Meerwasser eingedrungen war. Er war dabei. Es war sehr aufwändig, rentabel sei es dann doch nicht gewesen. Jetzt also Geschichte.

Weil sie nicht aufhören können zu suchen, obwohl die Adern ausgekratzt seien, suchen sie weiter, weil es Spaß macht in den Resten noch etwas zu finden. Geld lässt sich damit nicht mehr verdienen. Ich kann mir vorstellen, dass es eine Passion werden kann wie das Puzzeln, die Hingabe an das Suchen, die Freude des Findens, das Klopfen, fallen lassen, nur wenige Gewinne, keine Hauptgewinne mehr, aber ein leidenschaftlicher Zeitvertreib. Wir kämen noch an Abraumbergen vorbei, da vorne, da sollten wir unbedingt weitersuchen, da würden wir sicher noch fündig werden. Als wäre es nicht denkbar, dass wir nicht zu den Suchenden und Findenden gehören wollten. Wir gehen zurück zu der Stelle, an der seine Tochter noch klopft und an der unsere Rücksäcke liegen. Ich bin froh, dass er dabei ist, weil ich in dieser Landschaft aus Steinen und Geröll keine Orientierung habe.

„Ihre Tochter hat die Leidenschaft wohl von Ihnen geerbt“, sage ich.

Er nickt lächelnd und mit liebevollem Stolz.

Nach was halten wir Ausschau?

Nach passenden Puzzleteilen, nach Steinen, mit Spuren von Kupfer, nach Momenten des Glücks?

Nach was halten wir Ausschau?

Die Schreibende und ich 11

Mit dem ersten Kaffee an einem grauen Novembertag, an dem der Himmel weiß statt blau ist, vielleicht ist es auch ein ganz lichtes Grau, wenn ich noch genauer hinschaue, meine ich sich bewegende Grauschattierungen wahrzunehmen, ein wandernder Hochnebel. Die Schreibende kommt vorbei.

die Schreibende: Sag‘ mal, warum hast du unsere letzte Episode der Reisenden ins Netz gehauen, ohne vorher nochmal mit mir darüber zu sprechen?

ich: Ach, Du kennst mich doch.

die Schreibende: Nein, offenbar nicht, sonst hätte ich ja nicht gefragt.

ich: Ich habe einfach gedacht, dass muss jetzt raus, sofort, sonst geht die Energie aus der Reisenden heraus, wie Luft, die aus einem Luftballon weicht. Hättest Du von Dir aus nochmal daran weiter gearbeitet?

die Schreibende: Klar. Das bleibt doch interessant.

ich: Das Thema schon, aber wenn die Episoden dann schon so angestaubt sind.

die Schreibende: Nein, sie sind abgehangen und können dann erst ihre Wirkkraft entfalten, weil ich das mit dem richtigen Abstand erst richtig erfasse und herausstellen kann.

ich: Immer dieser zugrundeliegende Perfektionismus, dann dauert alles ja Jahre.

die Schreibende: Alles Mögliche raushauen, davon ist die Welt ja nur wirklich übervoll. Dann doch lieber weniger, aber mit etwas, was wirklich nachhaltig bleibt.

Zum Beispiel wäre noch so viel mit der letzten Episode möglich gewesen. Ich hätte die drei noch auf den zerklüfteten Schädelplatten des Gurnards Head herumklettern lassen, der sich weit ins Meer hinausschiebt, einzigartige Ausblicke. Dann die Mutter, die spürt, wie sie gar nicht hinsehen kann, wenn aus ihrem Blickwinkel die Kinder an den Abhängen entlang klettern und deren Herz rast und der Atem sich beschleunigt. Sie beschließt zurückzubleiben, legt sich auf den Boden, schaut in den Himmel. Dann spült sich die Angst durch ihren Blutkreislauf, durch die Venen zurück zum Herz, eine auf ihr Herz zupackende Kralle, ob sie es will oder nicht. Sie ist permanent dabei, sich zu beruhigen, dass ihre Kinder verlässliche Kletterer sind, bedächtige Menschen, aber die Zeit vergeht so quälend langsam, in der die Felsen die Kinder verschluckt haben. Es malt sich in ihr aus, sie will es gar nicht, die Kinder blieben verschwunden und sie fühlt schon mal mit allen mit, deren Liebste als vermisst nicht mehr zurückgekehrt sind. Stell Dir vor, dann könnte man es noch dramatisch zuspitzen, wenn die Kinder tatsächlich nicht zur vereinbarten Zeit zurückkommen, die inneren Kämpfe, die Versuche sich selbst zu beruhigen.

ich: Das ganze Drama halt, das wäre dann etwas, was Deiner Ansicht nach nachhaltig Eindruck macht? Das ist doch nicht Dein Ernst?

die Schreibende: Nachhaltig ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es wäre immerhin mal zugespitzte Spannung. Das berührt doch das größte existentielle Drama überhaupt, den möglichen Verlust der eigenen Kinder.

ich: Und das findest Du in einem Absatz der Reisenden gut aufgehoben?

die Schreibende: Ach, lass mich doch in Ruhe, ich meinte ja bloß, Du hättest mich wie abgesprochen mal fragen können. Außerdem ja, ich finde schon, dass sich das Besondere an dieser Reisekonstellation auch in solchen urmenschlichen Gefühlen offenbaren kann.

ich: Und was hat dann der Leser, die Leserin davon?

die Schreibende: Sie erkennt sich vielleicht wieder. Und fühlt sich nicht so allein mit ihren Erfahrungen von Verlustangst. Und vielleicht ringt die Mutter ja auf eine Weise, die der Leserin oder dem Leser nicht nur Abgrund, sondern auch Trost sein kann. Das käme ja darauf an, was wir schreiben.

Aber wieso bespreche ich das überhaupt mit Dir, wo Du ja maximal jedes dritte Buch zu Ende liest, weil sie Dir entweder zu emotional aufgeladen, zu gnadenlos konfrontierend, zu düster oder zu belanglos sind.

ich: Hast ja Recht, vielleicht lese ich nicht so gern dahin, wo es richtig weh tut. Manchmal kommt es mir so vor, wie ohne Zugewinn in Wunden herumzurühren. Ich empfinde halt alles so intensiv mit, das hast du zutreffend zusammengefasst. Zeit ist kostbar.

Aber komm, lass uns doch die letzte vorbereitete Episode noch überarbeiten, dann können wir die auch die Tage ins Netz stellen. Ich habe tatsächlich nicht so viel Vertrauen in unser Durchhaltevermögen.

die Schreibende: Nur um Dich nochmal daran zu erinnern, das ist ja unser Grundkonflikt. Das hat nichts mit Durchhaltevermögen zu tun. Das hat damit zu tun, dass Du zu viel willst, wenn der Tag lang ist und ich viel zu wenig konsequente Aufmerksamkeit von Dir bekomme.

ich: Hör mal, dafür habe ich noch ein weiterers phänomenales Thema für uns, dass mir bei der Gestaltung der Kalenderseiten in die Hände gefallen ist: die HYBRIS

die Schreibende: Bitte nicht jetzt. Meine Zeit ist kostbar.

Die Reisende 5

Es werden immer weniger Blätter, die an der Linde vor meinem Fenster in leuchtemden Gelb zittern, weil ein sanfter Wind durch die Straße weht. Es ist nass und der Hochnebel tilgt die Farben aus dem Himmel. Genau die richtige Stimmung, um mich wieder der Reisenden zuzuwenden.

Diese Episode beginnt lesend. Es ist Anfang des Jahres. Ich überlasse mich dem Sog des Buches SALZPFAD von Raynor Winn:

„Von Clodgy Point aus erstreckte sich das grün schimmernde Licht Richtung Osten, aber im Westen türmten sich bereits Quellwolken mit der typisch weißen Oberseite, und der auffrischende Wind blies einzelne Wolkenfetzen in unsere Richtung. Der Coast Path führte in eine aus unzähligen Landzungen bestehende Wildnis: Hor Point, Pen Enys Point, Carn Nuan Point und viele weitere, die noch außerhalb unseres Blickfeldes lagen. Nur die Landspitzen und der Atlantik, eine schroffe, urtümliche, fast bedrohliche Landschaft. Eine Landzunge nach der anderen. Während wir weiterwanderten, wurde der Himmel im Westen dunkler, stürzten abbröckelnde Steine ins Meer, begann sich weißer Schaum auf dem Wasser zu bilden, das ebenso undurchsichtig wirkte wie die tief hängende Wolkenmasse. Ein geheimnisvolles Land aus Felsen, geformt von Wind und Wetter, isoliert und weltabgeschieden. Seit Jahrmillionen unverändert und doch den ständigen Veränderungen durch Meer und Witterung ausgesetzt, ein Widerspruch in sich am westlichen Rand der britischen Hauptinsel. Unbeeindruckt von Zeit und Menschenhand zehrte dieses alte Land an unseren Kräften und unserem Willen und zwang uns dazu, uns den Elementen, die es formten, zu beugen.“

Raynor Wynn Der Salzpfad

Vielleicht beginnt die Geschichte in dem Moment, als ich im Buchladen zu diesem Buch greife. Was hat mich angesprochen? Nach was habe ich Ausschau gehalten? „Eine wahre Geschichte über den Triumph der Hoffnung über die Verzweiflung und den Sieg der Liebe über alles andere“, steht fettgedruckt auf dem Buchrücken. Vielleicht war es die Jugendliche in mir, die die wahre abgeschlossene Geschichte in der Fernsehzeitung liebt, die ihre Hand nach dem Buch ausstreckte und die ebenso fühlt, wie es ist, „Kraft aus der Natur zu schöpfen“.  

Es ist ein Buch über unbarmherzige Schachzüge des Lebens. Ein Paar, das die jahrzehntelang liebevoll aufgebaute Farm verliert, der Mann, den eine Krankheit im Griff hat. Als es nichts mehr zu verlieren gibt, am Tiefpunkt, macht es sich mit einer dürftigen Ausrüstung und ein paar Pfund in der Tasche auf den Weg, den ganzen South West Coast Path entlang zu wandern. Wie immer wenn ich lese: ich lebe mit, ich leide mit, ich liebe mit.

Wieso also nicht Cornwall, eine Küste entlang wandern, meine Sehnsucht nach Meer und Felsen, Himmel und Weite, Transformation, nach einfach, nach Schritt für Schritt stillen?

Cornwall also. Wandern also. Tageweise und in zwei Tagen von St. Ives nach St Just. Ich rufe in der Herberge in St Just an. Ob wir unser Gepäck da lassen können. Und wo wir übernachten können auf dem Weg von St Ives zurück nach St Just. Das Englisch der anderen Stimme am Telefon verstehe ich schlecht. Aber unser Gepäck können wir deponieren, verstehe ich und manche wandern die Strecke in einem Tag, aber ja, das sei schon heftig. Ich will keine quälende Grenzerfahrung, also wo wir übernachten können, frage ich wieder. Ja, das sei schwierig, verstehe ich. Da gäbe es kaum etwas. Ich solle Gurnard‘s Head eingeben. Dass sei ungefähr in der Mitte. Wie bitte? Wo bitte? Ich lasse es mir buchstabieren. Und accomodation soll ich eingeben. Der naheliegende Gedanke taucht auf, auf die ganze Reise unser Zelt mitzunehmen. Der Sohn bringt sein Unbehagen zum Ausdruck.
„Also was denn jetzt? Kultur oder Outdoor Adventure. Das ist ja eine komplett andere Art zu packen.“ Nein, Zelt überfordert mich. Komplett Outdoor ist zu viel Abenteuer gleichzeitig. Ich gebe Accomodation gurnard’s head ein. Ein einziges Bed and Breakfast taucht auf. Und ein Nobelrestaurant mit Zimmern. Davon hat die Stimme, die ich so schlecht verstanden habe, gesprochen. Etwas sehr Teures gebe es da nur. Ich schreibe beide Möglichkeiten an. Die Frau von dem Bed and Breakfast auf der Farm meldet sich zuerst.  

Als wir nach unserer Wanderung naßgeschwitzt ankommen, empfängt uns eine hagere braun gebrannte Frau in Jeans, die schlohweißen kräftigen langen Haare zu einem Zopf zusammen gebunden.

„Ihr seid zu früh, ab 16 Uhr ist Ankunft.“ Kurze Pause. „Aber ich bin ja da, hätte halt sein können, dass nicht“.

„Ach, ich dachte, wir werden unsere Rucksäcke los und erkunden dann nochmal den Gurnards Head“, antworte ich, „und ich brauche eine Pause. Zum Glück habe ich die jungen starken Menschen bei mir, die die Rucksäcke tragen“, setze ich fort. Ich erinnere mich an unsere erste Hüttentour, als mein Rucksack bis zum Rand gefüllt ist und ich mit den beiden mit ihren Kinderrucksäcken von der Schweiz nach Italien wandere. Ausgleichende Gerechtigkeit.

„Ich bin alt und stark“, sagt die Gastgeberin lachend.
Danke, denke ich, glaube ich sofort, nur ich fühle mich gerade nicht so.

Sie zieht uns vor eine Karte, die in ihrem Flur hängt.
„Die müsst ihr abfotografieren, da könnt ihr euch immer orientieren. Ihr könnt hier wieder zurück, wo ihr gekommen seid, dann lauft ihr bis zum Gurnards Head und entweder hier durch die Felder zurück. Das ist eine kleine Runde. Oder ihr lauft noch bis nach Porthmeor Cove, dass ist wunderschön, eigentlich müsst ihr da noch hinlaufen, dann wieder landeinwärts bis zu einem Sträßchen und über die Felder zurück. Das ist eine etwas größere Runde. Morgen könnt ihr überlegen, ob ihr die erste Landzunge weglasst, dann spart ihr etwa eine Stunde Strecke.
Wann wollt ihr frühstücken? Von mir aus gern früh, ich bin früh wach.“

Also die werden wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, denke ich. Wir schauen uns an, einigen uns auf halb 8 Uhr. Ich mag sie trotzdem. Es ist auch mal schön, von einer Frau an die Hand genommen zu werden.
Wir bahnen uns den Weg durch den Flur, in dem sich allerhand Schätze sammeln. Der Anteil von Gerümpel und Raritäten ist nicht genau auszumachen. Mit Tüchern abgedeckte Quader und Berge wahren einen einladenden Eindruck. Der Boden und die Treppen sind mit einem blumigen Teppich ausgelegt.

Nachdem ich eine Zeit auf dem Bett in den Tiefschlaf gesunken bin, machen wir uns wieder auf den Weg. Die große Runde. Ich kann mich immer noch nicht satt sehen: Die an die Klippen heranrollende Brandung, die Farben des Meeres. In manchen Buchten türkis schimmernd wie auf karibischen Werbeplakaten, dann wieder tiefblau zu der schäumenden Gischt einen Kontrast bildend, wie ich sie auf Turners Gemälden erblickt habe. Die zurückrollenden Wellen lassen braune Felsbänke zurück und ich stelle mir vor, wie sich die Seehunde darauf sonnen. Der blühende Ginster duftet nach Kokos und ich kann ihn so im Kontrast zum Meer fotografieren, dass er noch gelber leuchtet als ohnehin. Jede neue Landzunge entblättert eine eigene Schönheit vor meinem Auge, tief eingeschnittene Buchten, die der Pfad abschreitet. Es ist noch ergreifender, als ich es mir vorgestellt habe.

Am nächsten Morgen spricht unsere Gastgeberin etwas mehr. „Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie manche Menschen hier ankommen. Sie sind völlig fertig, weil sie diese Art nicht gewohnt sind, dieser Step breaking walk, wo jeder Schritt ein Ausgleich mit dem ganzen Körper braucht, weil es keinen Moment einen ebenen Weg gibt. Selbst erfahrene Alpenwanderer haben da ihre Mühe. Andere rasen durch die Landschaft, ohne irgendetwas wahrzunehmen und wollen nur Strecke machen. Da gebt ihr ein richtig gutes Bild ab.“

Na, da sind wir wohl in ihrem Ansehen gestiegen, weil wir noch die große Runde drangehängt und sie in Ruhe gelassen haben. Und es scheint mir genau das, was ich genieße, den Step breaking walk, wenn laufen tanzen wird, wenn ich mich durch die Landschaft bewege mit allen Felsen, Steinen und Büschen.
Wir begegnen wenigen Menschen. Ein älterer Herr, mit einer gelben Krawatte kreuzt den Weg. Er sagt etwas zu mir im Vorbeigehen, was ich nicht gleich verstehe. Ich frage nach.

„Ist das nicht ein wundervoller Tag?“

„Ja, wirklich. Der ideale Tag, um sich dieser Landschaft zu überlassen, die noch viel atemberaubender ist, als ich es erhofft habe.“

„Ich wohne jetzt im Altenheim in Truro, aber ich bin an der Küste aufgewachsen, und wann immer es mir möglich ist, komme ich hierher“. Ich höre eine ganz große Liebesgeschichte heraus, die in seiner Stimme vibriert. Das Land, die Liebe seines Lebens?

Bevor wir vertiefter ins Gespräch eintauchen können, fordert er mich auf, „eilen Sie doch Ihrer Reisegruppe nach, es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe“.

„Ach, meine Kinder warten früher oder später auf mich“, beruhige ich ihn, „es war mir eine Freude“.

Die Reisende 4

ich: Stell Dir vor, ich habe gerade ein einstündiges Feature über die Wolken gehört auf BR2. Da kam sogar der Londoner Wolkenforscher vor. Ich weiß jetzt wie der heißt, Luke Howard, the godfather of the clouds, hat ihn mal jemand genannt.

die schreibende: Jetzt bist du wieder ganz im Glück, dass das Leben dir die Wolke reicht.

ich: Genau, kennst mich halt schon. Ich finde diese Art, wie das Leben meinen Gedankenstrom ungewollt füttert phänomenal. Wie unser poet to hire geschrieben hat:

cirrus und cumulus, in plaistow they named them

Und pass auf, es geht noch weiter. Im Radio Feature kam noch die Rede auf die Ausstellung Nebelleben in München, in der wir waren. Erinnerst du dich noch an Fujiko Nakaya, die 89-jährige Japanerin, die konsequent lebenslänglich an dieser Fusion von Kunst, Wissenschaft und Natur dran war, die mich mit ihren Nebelskulpturen total fasziniert hat.

die schreibende: Ich bin ja nicht dement, das war ja erst in den Pfingstferien. Natürlich weiß ich noch, wie wir auf Holzplattformen in einem gefluteten Haus der Kunst standen, es zu zischen begann, dann der aufsteigende Nebel, das Nichts, wo eben noch Wege und Menschen waren. Ich geb‘ zu, das war eindrücklich. Die zischenden Düsen und Stimmengemurmel. Statt noch was zu sehen, gab es nur noch was zu hören.

ich: Mich hat auch noch beeindruckt, auf diese Weise die Frage zu stellen, was Kunst ist und dafür zu sensibilisieren, wie wir als Menschen mit der Natur interagieren. Also frei nach Watzlawick, wir können nicht nicht Einfluss nehmen auf die Naturphänomene. Unsere bloße Präsenz, die Wärme unserer Körper beeinflusst die Nebelskulptur, wie weit sie aufsteigt und in welcher Geschwindigkeit sie kondensiert. Das ist natürlich nur exemplarisch. Wir interagieren ständig, ob konstruktiv oder destruktiv bleibt eine Frage der Perspektive.

die schreibende: Klingt bisschen weit hergeholt, aber immerhin hast du doch die perfekte Überleitung zu unserer nächsten Londoner Episode. Mit Liz in der Tate Modern.

4

Tate Modern ist der einzige Ort, der auf meinem Plan steht. Die Künstlerin in mir liebt Ausstellungen und ist in den letzten Jahren ziemlich kurz gekommen. Deshalb freut sie sich, als da ein eckiger Fabrikbau vor uns liegt, in dem früher Energie gewonnen wurde, der jetzt ein Museum beheimatet. Obwohl alles in London und England richtig viel Eintritt kostet, ist der Eintritt in die Tate Modern frei. Es ist kurz vor zwei und ich lese auf einem Schild, dass um 14 Uhr eine öffentliche Führung beginnt.
„Komm, das machen wir“, sage ich zu den Kindern und warte keine Antwort ab. Wir suchen den zweiten Stock im Blavatnik Gebäude, da soll der Treffpunkt sein. Da steht eine zierliche kleine Frau, ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Ein Tate Modern Anhänger, der ihr um den Hals hängt, weist sie als Mitarbeiterin aus. Dabei sieht sie aus wie ein Mädchen, dass verschickt wurde und darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich frage nach der Führung.

„Ja“, sagt sie, „ihr seid richtig, ich mache die Führung, nur außer euch ist bisher noch niemand gekommen“. Oh je, denke ich mitfühlend und kann mir gar nicht vorstellen, wieso es keine Menschen gibt, die sich wie ich an die Hand nehmen lassen wollen. Sie schaut sich suchend um, sieht noch ein Paar, was in die Nähe kommt und indirekt interessiert schaut. Immer diese indirekten Annährungen. Die kleine Frau macht einen Schritt auf das Paar zu, lädt sie ein und das Paar bleibt in unserer Nähe stehen.

„Ich heiße Liz und mache diese Führung zum ersten Mal. Wir sind eine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die Führungen anbieten. Wir sind völlig frei, was wir uns dabei aussuchen dürfen.“ Bei dieser Aussage strahlt sie uns mit aufgeregt leuchtend blauen Augen an. Mittlerweile sind noch einige andere Menschen stehen geblieben, wir sind ein Grüppchen von 8 bis 10 Personen. Liz beginnt über das Gebäude zu erzählen.

„Der eine Teil, in dem wir stehen heißt Blavatnik, nach dem Oligarchen benannt, der aus der Ukraine stammt, aber in USA und England lebt und das ganze Gebäude finanziert hat. Er ist so reich, dass es viele Gebäude gibt, die nach ihm benannt sind, weil er sie gezahlt hat. Willst du, dass dein Name auftaucht, dann kaufe dir dein Ansehen über gute Taten“, sagt Liz als Feststellung, ohne jeden Zynismus, aber wohl doch im Wissen um Macht und Ohnmacht, in Abhängigkeit vom Besitz der Mittel. Ich merke, wie ich anders darauf reagiere, dass Blavatnik ukrainischer Abstammung ist, seit es den Angriffskrieg Russlands gibt und ich auf unzähligen Benefizveranstaltungen doch einiges an Wissen gesammelt habe, obwohl die Ukraine ein zuvor genauso unterbelichteter Ort auf meiner inneren Landkarte war, wir Kirgisistan, Lettland oder Tschetschenien, ja wie eigentlich alle Sowjet Republiken. Jetzt stehe ich in einem der renommiertesten Kunstmuseen, dass vollständig von einem ukrainischen Oligarchen finanziert wurde. Das muss ich erst einmal verdauen.
„Der andere Gebäudeteil heißt Natalie Bell, benannt nach einer englischen Aktionskünstlerin“. Da suchen die Engländer nach Ausgleich und das ist mir sympathisch. Liz möchte uns gern etwas aus dem Bereich Materials and Objects näherbringen.
„Die Tate Modern hat ihre Ausstellung nach Themen sortiert, nicht zeitgeschichtlich. Es gibt Themen wie Asien, Frauen, People of colour, Reisen, Tiere, Migration, die inhaltlich ausgerichtet sind“, zählt Liz auf, „aber ich bin fasziniert von dem Bereich Materialen und Objekte“.

Liz hat sich Karteikarten gemalt, die sorgfältig gestaltet aussehen, wenn ich einen Blick darauf erhasche, während sie vorträgt. Wir halten in einem Raum mit dem Urinal von Duchamp auf, the fontain.
„Duchamp hatte das Urinal unter einem anderen Namen als Ausstellungsobjekt bei der Gesellschaft der unabhängigen Künstler 1917 in New York eingereicht und wurde abgelehnt, woraufhin die Debatte entbrannte, was denn nun eigentlich Kunst ist und ob man ein Urinal aus dem Sanitärfachgeschäft zu Kunst erklären kann“. Liz ist ganz involviert in ihre Führung. Sie versucht uns mit einzubeziehen.
„Was glaubt ihr, was hättet ihr gemacht, wenn ihr im Entscheidungskomitee gesessen hättet?“ Die Antworten bleiben aus.
„Ich habe mich das selbst oft gefragt und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür gestimmt hätte“.  Sie sagt es in einer Art, als würde sie bedauern, nicht von sich behaupten zu können, dass sie in jedem Fall so frei in ihrem Kopf ist, dass es für sie keine Frage wäre, das zu bejahen. Liz ist sichtlich begeistert von den revolutionären Fragen, die Duchamp mit seinem Ready Made dieser Art ausgelöst hat: Was ist eigentlich Kunst?

Während ich mich von ihrer durchringenden Art anstecken lasse, flüstert mir meine Tochter ins Ohr:
„Ich verstehe überhaupt nicht, wie sie so lange über so ein Ding sprechen kann?“ Liz stellt uns in der einen Stunde noch vier weitere Kunstwerke vor.
„Mama, die kann ja über jedes Kunstwerk so lange sprechen“, staunt und stöhnt meine Tochter und klinkt sich aus.

Ich bleibe dran!
Bei dem Kunstwerk Haegue Yang Sol LeWitt Upside Down – Structure with Three Towers, Expanded 23 Times, Split in Three 2015 fragt Liz wieder uns zuerst, wie wir das Kunstwerk empfinden. Was empfinde ich denn, wenn ich unter einer von der Decke schwebenden geometrischen Installation aus lauter Rollos herumlaufe? Es schwebt, es oszilliert, es ist leicht, es ist klar, es spielt mit dem Licht, es spielt mit mir, ich mag es. Vor allem mag ich vermutlich Liz, die mir ihre Zuwendung zu den Kunstwerken schenkt, die mich veranlasst zu bleiben und zu spüren und mir ihre Geschichten dazu anzuhören.

Ich lese noch einmal nach, was über das Kunstwerk Mark Dion Tate Thames Dig 1999auf der Website der Tate Modern Gallery zu finden ist. Vieles von dem hat uns Liz erzählt. Krass, was für einen Unterschied es macht, leidenschaftlich durch Lizs Stimme aufgefordert zu werden, mir Fragen zu stellen, als eine von unzähligen Ausstellungsinformationen zu überfliegen. Liz zeigt uns die Fundstücke, ausgegraben an den Ufern der Themse von Londonern, angeordnet wie archäologische Kostbarkeiten.
„Was ist kostbar genug, um in einer Wertigkeit suggerierenden Mahagoni Vitrine ausgestellt zu werden,“ fragt sie uns.
Die Schubladen mit den nach Materialen sortierten und angeordneten Fundstücken lassen sich herausziehen. Ich ziehe die Schublade mit den Keramikscherben heraus, die sich in ihrer farblichen Anordnung wie ein Mosaik zu einem Bild zusammenfügen. Scherben, Bruchstücke, Fundstücke.

„Grabt, findet Splitter, Scherben mit Bruchkanten, wendet Euch zu, aus dem Zusammenhang heraus, staunt über die Intensität der Fundstücke, sie fügen sich zu einem Bild zusammen“, höre ich mich Wochen später in meiner Schreibgruppe sagen. „Sie werden genau so wertvoll und groß, wie ihr sie wertvoll und groß sein lasst“. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Menschen wie viele Tage das Ufer abgegraben haben, dann weiß ich wieder, es braucht Zuwendung, Zeit, Zielstrebigkeit und sowohl Lust am Finden, als auch das Vertrauen, dass sich die Mühe lohnt.

Es geht noch weiter. Ich bleibe dran! Seamless heisst das nächste Kunstwerk von Sarah Sze bei dem sie aus Kabeln, Drähten, Streichhölzern, Sieben, Stangen, Löffeln, Pinseln ein um sich greifendes Gebilde in den Raum und in die Wände hineinwachsen lässt, in die dafür quadratische Löcher geschnitten wurden. Es hört nicht auf zu wachsen, selbst wenn wir es nicht mehr sehen, es gibt ein Werk hinter der Wand, ein Leben unter der Erde, ein Wachsen, das Räume verbindet. Liz holt Gegenstände aus ihrer Tasche, die sie mit sich herumgetragen hat und breitet sie vor uns aus.

„Was seht ihr?“, fragt sie uns. Den Inhalt der Schublade, in der sich alles sammelt, was keinen klaren Ort findet. Ganz klar. Und jetzt ein Kunstwerk, aus all diesen Materialen, die uns alltäglich umgeben, die herumfliegen, die in keine Kategorie passen. Mich rührt Lizs pädagogischer Einsatz, ihr Anschauungsunterricht. Mir gefällt es, wie eines ins andere übergeht, wie es nirgendwo aufhört und anfängt und doch voller Abenteuer und Geschichten steckt. Die Künstlerin schafft ein luftiges Gebilde, das mich an die Mobiles von Alexander Calder erinnert.

Ich erinnere mich, wie ich allein durch die Ausstellungshalle in Bonn streife in den neunziger Jahren, wie die Mobiles mich erregen, so wie es manche Werke tun, die auf etwas in mir treffen, das ich vielleicht Empfangsantennen oder Rezeptionsnerv nennen kann. Es ist tatsächlich eine Form der Erregung, ich bin aufgeregt und angeregt zugleich, dass sich in mir das in Material Verdichtete entschlüsselt und eine intime Begegnung stattfindet.

„Ich müsst Euch unbedingt noch die Ausstellung Performer und Participant anschauen im Natalie Bell Teil“, sagt Liz zu uns beim Abschied.  

Noch mehr? Geht noch was? Wir gehen erst mal aufs Klo. Nein, es geht nichts mehr. Vor allem ich kann nicht mehr.  Ich mache mich von der Hand los, an die Liz mich genommen hat und drücke auf die Pausentaste.

Das Feature zu den Wolken zu hören auf:

https://www.br.de/mediathek/podcast/bayerisches-feuilleton/bayerische-kraftplaetze-die-wolke/1877580

Die Reisende 3

die Schreibende: „Sag mal, was ist denn in dich gefahren, dass du heute schon wieder an unserem Blog über die Reisende arbeiten willst?“

ich: „Ich bin halt im Flow, Schreibflow, Lebensflow, Reiseflow, dranbleiben, nachholen, aufholen, einholen“.

die Schreibende: „Du bist halt im Flow – was soll das denn jetzt heißen, fließ mich weg, oder was?“

ich: „Also noch einmal gesammelt. Erstens will ich mich tatsächlich an unsere Verabredung halten, einmal in der Woche eine Episode für andere Menschen lesbar zu machen. Zweitens ist K. gerade mit ihrer Tochter in London und das motiviert mich auch, mich auf diese Weise mit dem Abenteuer London mit jugendlichen Kindern zu verbinden, drittens hat mich mein Wochenende mit anderen Schreibenden im Schreibdorf tatsächlich wieder anders auf meine Lust am Schreiben fokussiert.“

die Schreibende: „Ist ja schon gut, ich bin dabei. Also die Reisetruppe wollten wir vorstellen.“

ich: „Genau. Es gibt einen hochgewachsenen knapp zwei Meter großen 17-jährigen, mit wuscheligen dunklen Haaren, einer Brille, einem charmanten Lächeln, der mit ausgelatschten Vans darum läuft und meistens die Airpods in den Ohren stecken hat und zudem mit einem verträumten Blick gesegnet ist. In der Reisegruppe ist er der Sohn. Hast Du noch etwas zu ergänzen?“.

die Schreibende: „Er hat braune Augen und fällt in der Rolle des stillen Beobachters eher angenehm auf, macht sich seine eigenen Gedanken, die er hin und wieder äußert und wird von vielen als attraktiv wahrgenommen. Ansonsten macht er alles am liebsten in letzter Minute, auch packen und planen.“

ich: „Dann gibt es die zwei Jahre jüngere Schwester und Tochter in der Gruppe, die auch Vans trägt, sich eher an den Bruder als an die Mutter wendet, die dunkelblonde glatte Haare und graugrünblaue Augen hat, eher sportlich daher kommt, dabei aber sehr auf ihren eigenen Kleidungsstil achtet.“

die Schreibende: „Alles in allem würde ich sie als gesprächsfreudig und aufmerksam ansehen, also schon auch noch ein gegenüber für die Mutter, für dich, die du eben die Mutter in dieser Reisegruppe bist. Einfach nur die Mutter. Die anderen sind ja auch noch Bruder und Schwester, du halt leider nur die Mutter.“

ich: „So ein Quatsch. Ich bin ja mit dir unterwegs. Wir sind schon mal zwei. Die Reisende und die Schreibende – und ja, ich bin halt auch die Mutter“.

die Schreibende: „Nein, ich finde, du bist nicht auch die Mutter, sondern dieser Umstand macht die ganze Reise zu dieser Reise, dein ganzes Reiseführergeplänkel und so. Ich finde, wir könnten das in unseren Episoden schon noch mehr einarbeiten.“

ich: „Familiendynamik, Reisen mit Jugendlichen und so? Davor habe ich mich wohlweislich gedrückt. Ich will jetzt nicht mehr nochmal alles umschreiben.“

die Schreibende: „Ach komm, das macht es doch eigentlich interessant, oder? Wer bricht wann unter welchen Umständen zusammen oder bekommt sonstige Krisen?“

ich: „Hör mal, das Ganze hat auch noch die Überschrift Urlaub, nicht Überlebenstraining. Ich glaube, da hast du was verwechselt.“

die Schreibende: „Nein, ich bin komplett im Bilde, aber Reisen mit dir haben im Allgemeinen wenig gemein mit dem, was ich unter Urlaub verstehe. Ich dachte, da wären wir uns einig.“

ich: „Schon gut, schon gut. Ich fand es halt passend, den Fokus auf das Reisen und die Begegnungen im Außen zu legen, aber wir können ja schauen, wo es sich anbietet, den Charakteren in der Gruppe ihren Auftritt zu lassen, oder wo und wie diese Gruppe Entscheidungen gefunden hat. Das ist aber echt nochmal eine ganz andere Nummer“. Ich seufze. „Jetzt will ich erst mal über unsere Begegnung mit dem Poeten erzählen“:

Wir laufen am Themse über entlang, auf der Seite des London Eye und der Tate Modern. Der Himmel ist bewölkt, es könnte bald anfangen zu regnen. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Mann hinter einer Schreibmaschine sitzen, die auf einem Klapptisch steht. Auf einem gemalten Schild davor steht POET TO HIRE, give what you like. Ich ziehe die Tochter am Ärmel. „Wartet“, und deute auf den Mann am Wegrand. No risk no fun, eine kurze Überwindung, der Sohn ist auch stehengeblieben, ich gehe auf den Mann zu. „What a great idea, we’d love you write a poem for us“

„Über was soll ich etwas dichten? Ihr sagt mir, was für ein Gedicht ihr wollt“.

Sofort denke ich daran, wie meine Tochter mich aufforderte. „Mama, drei Wörter, nein fünf Wörter“, wenn ich dabei war, abends ihr Zimmer zu verlassen. „Dann kann ich mir eine Geschichte erzählen, ich kann sowieso nicht einschlafen“.

Ich schaue meine Tochter an, meine Tochter schaut mich an, mein Sohn steht etwas abseits. Ich schaue in den Himmel. Clouds, sage ich. Ich schaue meine Tochter an. Zeit gewinnen über small talk. Where do you come from, how long are you visiting and so on.  

Der Dichter wohnt in einem Stadtteil im Osten. „Da wollt ihr nicht hin“, sagte er und deutet heftige Lebensumstände an.  Aber immerhin habe sein Stadtteil zwei Wolkenforscher hervorgebracht. Er war noch nie in Deutschland. Das wäre mal was, der Süden, der See, kurz hinter der Schweizer Grenze. Meine Kurzbeschreibung unseres Wohnortes. Jetzt war die Tochter soweit.

„Wie ist es eigentlich so in London zu leben?“ Ein Gedicht über das, was es ausmacht, das englische Lebensgefühl, will sie. Der Mann setzt sich an seine mechanische Schreibmaschine und seine Finger hämmern in die Tasten, die jeweils einen Buchstaben direkt auf das Papier stempeln. Rasant, die Wörter direkt graphisch gesetzt. Vermutlich schaue ich mit offenem Mund zu. Er zieht das Papier aus der Maschine und reicht es uns.

„Oh, wäre es vielleicht möglich, dass du es uns vorliest“, frage ich. Er nimmt sein Gedicht zurück und beginnt, etwas zögerlich. Dann liest er.

Keiner von uns spricht. „Wow“, bringe ich heraus. Ich habe gar nicht alles verstanden, bin aber sehr berührt. Allein schon die erste Zeile. So much of what we are is cloud

Und was sich dann alles entfaltet. Der Mann mit Glatze, randloser Brille, Vollbart und hellen Augen, er erinnert mich an das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Ich versuche meine Anerkennung in Worte zu fassen, wie auch immer unbeholfen. Aber etwas scheint anzukommen.

„Hey, du hast ja noch nicht einmal das Gedicht signiert oder deinen Namen darauf geschrieben“, stelle ich fest.

Wieder ein schüchternes Lächeln. Mich rührt diese großzügige Geste, die fehlende Eitelkeit, sein Werk ohne Autorenschaft der Welt zu schenken, Verfasser unbekannt. Kann es ihm nur darum gehen, ein paar Pfund damit zu verdienen, ohne Notwendigkeit, dem eigenen Tun eine Größe zu verleihen? „Luke Davis“, sagt er, als er mir das Blatt zurückgibt, für den Fall, dass ich seine Schrift nicht entziffern kann. „Und bis bald dann, am See, kurz hinter der Schweizer Grenze“, sagt er beim Abschied.

Ich finde unter den Eingaben Luke Davis Poet London tatsächlich etwas heraus und zeige es der Schreibenden:

Luke has been writing poetry for 23 years with a pure flame of idiot devotion. For the last 2 years he has been sitting by the Thames at Bankside, in all seasons, and writing poems for passers-by about anything from terminal cancer to pet pugs. This has left him with an anonymous, secret body of work distributed all across the world, framed in kitchens in Tasmania and bedrooms in Tennessee, poems dedicated to Brads and Bretts and Calebs, and hundreds and hundreds of lovers everywhere. This provides a healthy counterbalance to his own personal work which is typically of a perversely recondite and involved nature (although initiates will no doubt recognise the psychedelic influence and intent).

https://www.breakingconvention.co.uk/speaker-LukeDavis.html

die Schreibende: „Krasse Haltung. Die ringt mir echt Respekt ab. Doch nicht das naive Mädchen mit den Schwefelhölzern, sondern eine bewusste Entscheidung, die eigene Arbeit als ein anonymes geheimes Werk in der Welt zu verteilen“, stellt die Schreibende fest.

Unter dem Eintrag, der der ihn als Sprecher bei der BREAKING CONVENTION 2023 vorstellt, finde ich noch eine unauffällig gehaltene webside der POETS FOR HIRE, PAY WHAT YOU LIKE, von ihm und seinem Kollegen: https://wordtrade.co.uk/

Und trotzdem, es fühlt sich nach dem Gegenteil an von dem, was die allermeisten Menschen tun: statt sich selbst darzustellen und feiern zu lassen, sich in den Dienst zu stellen und zu verschenken – selbst wenn es das PAY WHAT YOU LIKE gibt.

„Ich muss da nochmal drüber nachdenken“, sage ich.

Die Reisende 2

Gerade bin ich heimgekehrt und habe gestaunt, wie schon nach einem verlängerten Wochenende unterwegs der Herbst noch mehr in die oktobergoldenen Linden eingezogen ist. Die Schreibende hat mich an unser Projekt erinnert und einen vorwurfsvollen Blick auf den Kalender geworfen. Schon gut, sage ich. Wir sind über die zweite Episode gegangen. 

2

Der Stadtplan aus London. Ich hänge ihn über die Spüle. Das, was vor der Reise in Reiseführern aussah wie der Mond, wie eine nicht zu fassende Fremde, die mich in ihrer Fülle erschlägt, hier an der Wand in der Küche, spricht der Stadtplan zu mir, erzählt mir von unseren Schritten, die wir zurückgelegt haben. Der River Thames liegt hellbau wie ein Stück Faden auf der unteren Hälfte. Er hat mich vor dem Ertrinken gerettet, Orientierung geschenkt. Die kleinen Straßen sind weiß eingezeichnet, die größeren gelb und die ganz großen orange.

Zuvor hat mir der Reiseführer die betörenden Reize ins Ohr geflüstert: Die Themse, unbedingt die Themse, die Towerbridge, der London Tower, Big Ben, Soho, Mayfair, St Giles, Bloomsbury, Westminster, Worte, die sich sperrig auftürmten, zwar irgendwie verheißungsvoll, doch das Fassungsvermögen meines Kopfes sprengten. Wie sollen wir denn jetzt London angehen? Wie bloß?

Ich suchte nach dem London, dass ich kannte aus Erzählungen, suchte nach vertrauten Namen. Mit fielen auf die Schnelle gerade mal Charles Dickens und die Brontë Schwestern ein, nicht gerade in London beheimatet, suchte nach strukturierenden Größen, es gab ein viktorianisches Zeitalter und die gregorianische Architektur, aber es half nicht. Ich fand etwas Trost bei Harry Potter und Kings Cross. Aber alles in allem blieb es eine große, mich erschlagende Schöne.  Einen spärlichen Tag würden wir dort verbringen und ich fühlte mich verloren.

Dabei war ich schon einmal ein verlängertes Wochenende in London. Ich erinnerte mich an WG-Zimmer, daran, dass ich hinten auf einem Mofa saß bei einem Mann, der mich quer durch die Stadt zum Tanzstudio fuhr, daran, dass ich mit einem anderen im Bett lag, einem, den ich toll fand, der aber vergeben war und daran, dass ich eigentlich ein Auswahlwochenende für eine Ausbildung in Body-Mind Centering machte. London? Ein Ort des Geschehens, weiter nichts.

Wir steigen aus dem Eurostar aus und laufen mit unseren großen Rucksäcken durch die dunkle Stadt von Kings Cross nach Soho, um in unserer ersten Übernachtungsgelegenheit anzukommen. Was ist schon eine dreiviertel Stunde, wenn wir die ersten Eindrücke aufsaugen können wie Löschpapier. Weil ich es gar nicht blicke, aus welcher Richtung die Autos an den großen Kreuzungen denn jetzt kommen, stolpere ich schnell über die Straßen. Mögen die Autofahrer nachsichtig sein, lautet mein neues Mantra.

Ich habe eine Herberge ausgewählt zu der uns eine schmale Treppe in ein Inneres nach oben führt. Ein junger Mann empfängt uns in einer einladenden Lobby, vertraut, als wären wir gute Freunde.
„Was sollen wir denn jetzt machen, Morgen, in London?“ platze ich heraus, denn alle vorausgeschmiedeten Pläne haben sich aufgelöst in der nächtlichen Dunkelheit.

Er faltet einen Stadtplan auf, nimmt einen pinken Marker und beginnt.
„Hier ist Soho, hier sind wir“, er malt ein Kreuz mit einem Kreis darum herum. „Wenn meine Freunde oder meine Familie kommt, dann empfehle ich immer, hier in den Park St James zu laufen, da ist es wunderschön und ruhig, der schönste Park überhaupt, dann hier Buckingham Palace“, den malt er rosa aus. Seine Stimme und seine Bewegungen sind so liebevoll und fürsorglich, dazu noch rotblonde Haare und einen drei Tage Vollbart. Er erinnert mich an meine schwulen Freunde und ich bin ihm jetzt schon dankbar, dass er uns an die Hand nimmt. „Regierungsviertel, Westminster Abbey, Big Ben, über die Brücke, London Eye ist langweilig, aber an der Themse könnt ihr entlang spazieren, da seht ihr alles“ und er malt das ganze Themseufer pink. „Da ist die Tate Modern, dahinter ist auch noch ein cooles neues Viertel, bis zur Tower Bridge und dem Tower of London könnt ihr laufen. Mein Favorit ist zweifellos St Pauls Cathedral“, die wird auch noch Pink angemalt. „Das Viertel könnt ihr noch anhängen“, ein schwungvoller pinker Kringel, und Spitalfields wird auch noch umkringelt.

„Genau, wir machen dann direkt noch eine Nachtwanderung“, sage ich lachend und bin froh, dass wir den Plan mitnehmen dürfen, auf dem auch der Berg dreimal schwungvoll umkreist wird im Norden, wenn wir einen Überblick bekommen wollen. „Aber den bekommt ihr auch in der neuen Tate Modern, wenn ihr ganz nach oben fahrt“. Wir können direkt von hier aus loslaufen. Alles easy.

Ich erinnere mich an meinen ersten Schüleraustausch in Dublin, ich bin in der siebten Klasse und Dublin ist die Partnerstadt von Frankfurt. Ich fotografiere alles, weil mich alles fasziniert, die Telefonzellen, die Briefkästen, die Doppeldeckerbusse, die Hydranten, die Parkbänke, ich komme einfach aus dem Staunen nicht heraus. Ich erinnere mich an den Moment, an dem die Fremde noch fremd ist, an eine Begeisterung, die durch die Nase einströmt, wie der Atem, an einen Blick, der noch Außen vor ist, der an den Fassaden hängen bleibt, der heute etwas wahrnehmen kann, was morgen schon nicht mehr besonders ist.

Ich erinnere mich an Familienreisen: Meine Mutter mit dem Baedeker, ihrem Lieblingsreiseführer, die Brille absetzt, um besser lesen zu können, mein Vater, der zielsicher jede Kirche ansteuert. Ich, eines von zwei Kindern, halbwegs gelangweilt. Besichtigen, nachlesen, erkunden, vertiefen, sich führen lassen, Geschichte begreifen, was sollte das eigentlich? Als Jugendliche unterstellte ich dieser Art der Annäherung, dass meinen Eltern sich das Wesentliche genau darin nicht offenbarte. Kopflastig und bildungshungrig fand ich das, zumal die Geschichtsschreibung mir eine Welt erklärte, die für meinen Geschmack nie zum Wesentlichen vordrang.

Was war eigentlich mit mir los, dass ich zu Reiseführern griff? Oder sollte ich mich wundern, was los war in all den Jahren, in denen ich in allen Städten dieser Welt einfach Freunde besuchte ohne jeglichen Sightseeing Impuls, das ganze Touristen Programm war überhaupt unter meinem Niveau. Wer gab sich denn mit so etwas ab? War ich wieder zur profanen Touristin mutiert, kurz davor, in Sightseeing Busse einzusteigen?

Planvoll und planlos ziehen wir am nächsten Morgen los. Es ist noch früh, es verspricht ein trockener, zumeist sonniger Tag zu werden, die Stadt erwacht mit uns, die wir einfach laufen und schauen, die grobe Richtung stimmt, Süden, der Fluss, wir streifen die Highlights, sind mit Grundbedürfnissen beschäftigt, wo finden wir etwas zu frühstücken?  Beim Frühstücken schauen wir zu, wie die Fahrradfahrer ihre Räder mit zwei dicken Schlössern abschließen. Ich freue mich an den vielen Brompton Fahrrad fahrenden, die ich entdecke, dieses aus England stammende Faltrad schlechthin, das es auch bis zu uns geschafft hat. Ich staune, wieviel Bewegung, Vibration, Vitalität, Jugendlichkeit, Farbigkeit, Überlebenskreativität mir an allen Ecken und Enden entgegen schwappt.

Plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich auf Entzug gewesen: auf Großstadt Entzug, auf Reise Entzug, auf Lebenshunger Entzug.

Im Vergleich zu London lebe ich in einem Sanatorium, einem Ort der Ruhe und Heilung, an einem See mit langen Uferpromenaden und unbekümmerten Schwanenfamilien, die lediglich entschieden ihre Jungen verteidigen, wenn spielfreudige Hunde auf sie zuschwimmen. Und dann der ganze Pandemie bedingte Rückzug, mit und ohne Entzugserscheinungen. Das Hinaus aus dem real nicht mehr existierenden sozialen und kulturellen Leben, weil Hinein plötzlich bedeutete zu riskieren, sich oder andere anzustecken. Im Ausklingen spüre ich den Nachwehen nach.

„Sag mal“, sagt die Schreibende, „sollten wir nicht mal sagen wer WIR sind auf dieser Reise?“

„Meinst du, das ist von Bedeutung?“

„Finde ich schon“

„Also gut, ja, machen wir. Als Einstieg in die nächste Episode“.

Die Reisende

Es regnet und die ersten Lindenblätter färben sich gelb. Hier wird es zumutbar herbstlich.

In dieser Stimmung haben die Schreibende und ich uns zusammengetan und nicht nur dem Regen gelauscht. In unserem Coworking Prozess haben wir uns zurückerinnert. An das Ankommen. Das Heimkehren. Und das Vorausplanen. Das noch nicht wegegekommen Sein. Und so umkreisen wir unsere Reise im Danach und Davor, stellen Fragen nach dem Wie und Warum des unterwegs Seins.  Herausgekommen sind 6 Episoden rund um die erste Englandreise, die wir jetzt wöchentlich in den Blog stellen. (Öffentlich verkündete Vorhaben erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung)

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Nach zwei verpassten Zügen wegen Verspätung kommen wir also doch wieder zu Hause an. Es kommt mir vor wie ein Wunder. Am Morgen uns aus dem kleinen Hotelzimmer im Kings Cross Inn geschält und die Straße überquert zum Abfahrtsterminal des Eurostars in St Pancras und am Abend laufen wir trotz aller Verspätungen noch in der Abenddämmerung zurück ins Paradies, das mir so unwirklich vorkommt.

Um anzukommen muss ich direkt anfangen auszupacken, als gäbe es kein Ankommen ohne Auspacken für mich. Als gäbe es kein zu Hause ohne diese nach der Reise Stillleben. Dann ist es bald soweit, die Wäscheberge türmen sich vor der Waschmaschine. In den Kleidern stecken noch die Gerüche der Reise. In den Stadtplänen und Ausstellungsflyern entfalten sich die zurückgelegten Wege.

Der Schweiß unserer Fahrradtour steckt zum Beispiel in dem kaffeebraunblau gestreiften Oberteil, dass so eng am Körper klebte. Wir leihen unsere Fahrräder bei Steve in Penzance, ein kräftiger bärtiger Mann, dessen Frau uns die Tür öffnet und uns durch einen kleinen Flur eine Treppe hinunter in einen Hinterhof mit Garage führt. Zur Straßenfront in großen Fenstermansarden ist noch der Frühstückstisch für die Bed and Breakfast Gäste gedeckt. Einladend sieht es aus. Steve schaut uns an und holt seine größten Fahrräder, allesamt neue Ware, auf die er monatelang gewartet hat. Ja, sagt er, es ist schön, dass die internationalen Gäste wieder kommen, jetzt wo die Engländer die Insel wieder verlassen. Er hofft, sie kommen schnell genug, auch wenn der Staat die Menschen, die vom Tourismus leben zunächst gut unterstützt hat, kämpfen alle mit den Nachwehen der Pandemie.

Steve erklärt uns den Weg: Nach Mousehole können wir an der Strandpromenade entlangfahren, dann geht es den Berg steil nach oben, so steil, dass es egal ist, ob wir schieben oder laufen, wir sind genauso langsam oder schnell, dann geht der Weg um die Kurve bis aus dem Nichts eine Thai Takeaway am Straßenrand auftaucht. Wir können uns an den Fahrradschildern mit der Nummer 3 darauf orientieren. Wenn wir wollen, dann führt uns der Weg bis nach Lands End auf unbefahrenen Straßen, auf denen uns allenfalls ein Bus überholt. Und an den Merry Maidens kommen wir noch vorbei, da müssen wir nach links schauen, über das zweite Gatter können wir klettern, um den keltischen Steinkreis aus der Nähe zu betrachten. Steve malt uns die ganze Route auf einer Karte auf. Lamorna Cove ist ein alter Steinbruch, beantwortet er meine Nachfrage, aber da geht es nochmal steil runter. Nach Steves Wegbeschreibung sehe ich uns am Ende der Promenade gemütlich Kaffee trinken. Aber wir radeln und radeln, vorbei am Thai Take Away, das aus dem Nichts auftaucht, auf Straßen, die verwunschen, zugewachsen, überdacht von den Bäumen uns in ein anderes Reich versetzen. An der Lamorna Cove fragen wir zwei Männer nach einem passenden Inbusschlüssel, die vor einem Café stehen, weil ein Sattel doch zu niedrig ist. Der Ältere fragt uns etwas, der Jüngere lacht und sagt, sprich Englisch, selbst er verstehe sein Kornisch nicht, sagt er an uns gewandt. Entweder wir machen den Sattel höher oder die Beine kürzer, sagt der ältere Mann, diesmal auf Englisch. Ja, genau, dass sind die beiden Möglichkeiten, da ist er wieder, der britische Humor. Der passende Inbusschlüssel findet sich, wir sollen ihn doch mitnehmen, man wisse nie.

Lands End. Da also radeln wir hin, da wo das Land endet und das unendliche Meer den Blick bis nach Kanada frei lässt. Lands End ist das englische Finisterre und bis an dieses Ende der Welt radeln wir jetzt. Die Merry Maidens stehen unschuldig auf dem Feld und ein Hund umkreist sie freudig bellend, als wäre es sein Ort, an dem er seine Zeremonie abhält. Die Hundebesitzerin erzählt, dass es genau 19 Steine sind, obwohl es mal 18 waren und dass die kleineren und die größeren Steine für unterschiedliche Mondphasen stünden. Ich schreite die Steine von Innen und Außen ab und stelle mich in die Mitte. Die Kraft der Steine, dieses alten Ritualplatzes, ich spüre sie. An Lands End umrunden wir die vorangelagerten touristischen Spiel Spaß und Spannung Attraktionen und schauen auf die Felsen und den Leuchtturm, lassen uns den Wind um die Nase blasen und laufen nach Süden, vorbei an einem Streichelzoo und einem craft shop. Der als Pirat verkleidete Silberschmuckverkäufer kommt mit uns ins Gespräch. Er erzähle den Kindern immer Geschichten, er sei der Geschichtenerzähler schlechthin und manchmal könnten die Kinder dann nachts nicht mehr schlafen. Das glaube ich sofort, da er die Aura eines Piraten hat, eines Mannes, der schon einiges an Leben hinter sich hat, darin aber auch viel Weisheit angesammelt. Wenn wir weiterlaufen, kommen wir an den Felsen, der aussieht wie ein im Meer trinkender Elefant und an weitere Steine aus der keltischen Zeit. Das sollen wir doch machen, noch etwas die Felsen erkunden und unsere Räder hier stehen lassen.

Vielleicht heißt in der Fremde sein, mir erzählen lassen, was ich zu tun habe, von Menschen, die mir aufmalen und sagen, was es zu entdecken gibt. Vielleicht sind es meine nicht gebuchten Fremdenführer, die mich an die Hand nehmen und mir die Augen öffnen mit ihren persönlichen Geschichten. Vielleicht ist es meine Neugier, die sie einlädt, mich an die Hand zu nehmen.

Das alles steckt als Schweiß in dem T-shirt, dass da vor der Waschmaschine liegt.

Da liegt auch das Badezeug, in dem noch das Meerwasser klebt, salzig, voller Algen aus dem Whitesand Bay in Sennencove und Porth Nanven und Portheras Cove, die Buchten, die wir uns auf unseren verschiedenen Touren erwandert haben. Das Meer, das mich so fasziniert und einschüchtert. Wenn ich in die zurücklaufende Strömung schaue, stelle ich mir vor, sie ist wie ein Staubsauger, der mich einsaugt und mitnimmt und weit draußen wieder ausspuckt. Diese Wucht, wenn die Brandung zweier Wellen gegeneinanderschlägt. Ich kreische vor Angst, Freude und Kälte, bleibe da, wo die Brandung am unangenehmsten werden kann, aber ich mich trotzdem sicher fühle.

Mein manischer Vollzug des Ankommens, der eine nicht vorhandene Energie freisetzt, beinhaltet dieses Mal, dass ich alle Stadt und Faltpläne mit Tesakrepp versehe und an unsere jungfräulich frisch gestrichene Küchenwand pinne. Ich bin entzückt, wie sie sich sowohl farblich, als auch von den graphischen Formen zu einer perfekten Küchenwandgestaltung zusammen puzzeln, als hätten sie einzig auf diesen Moment gewartet, in meiner Konstanzer Altbauküche kuratiert zu werden und ihre ganze Größe als Kunstwerke zu entfalten.