Stolpersteine 2017

Sich anfreunden
Für Liliana Löwenstein

Ich wohne in einem Haus, das 111 Jahre alt ist. Vorne an der Ecke ist ein kleiner Balkon. Neulich stand ich auf dem Balkon und habe beobachtet, wie drei Leute auf die 8 Stolpersteine im Boden vor dem Haus aufmerksam wurden. Sie haben angehalten und sich darüber ausgetauscht. Dann sind sie weitergegangen.

In diesem Haus sind 4. Stockwerke, es steht an einer Ecke und ist mit einer runden Kuppel abgeschlossen. Es ist schon richtig viel passiert in diesem Haus in den über 100 Jahren, viele Familien haben dort gelebt, geliebt, gelitten und gefeiert. Das Haus ist ein Zeitzeuge dieser Geschichten. Es steht in Konstanz in der Blarerstraße. In der Straße stehen auch viele Bäume, es ist ein schöner Ort zum Wohnen.

Ich wohne mit meinen Kindern seit 10 Jahren im zweiten Stockwerk. Es wurde in der Art des Jugendstils gebaut, das heißt, man hat sich damals besonders viel Mühe gegeben und an der Fassade sind Gesichter, Verzierungen und Girlanden angebracht. Als das Haus gebaut wurde, hat man ganz hohe und große Räume gebaut. Hier bei uns sagt man, das ist ein Altbau, was nicht heißt, dass das eine Bruchbude ist, sondern dass es eben aus dieser Zeit stammt.

In diesem Haus hat sich auch folgendes zugetragen, wie ich der Geburtsurkunde Nr. 55 entnehmen kann:

Konstanz, am 22. Februar 1916

Vor dem unterzeichneten Standesbeamten erschien heute der Persönlichkeit nach bekannt, Viehhändler Heinrich Löwenstein, wohnhaft in der Blarerstr. 32, israelitischer Religion und zeigte an, dass von der Berta Löwenstein, geborenen Guggenheim, seiner Ehefrau, israelitischer Religion, wohnhaft bei ihm, in Konstanz in seiner Wohnung am ein und zwanzigsten Februar des Jahres tausend neun hundert und sechzehn um sieben ein halb Uhr ein Knabe geboren worden sei und dass das Kind den Vornamen Kurt erhalten habe.

Gut 90 Jahre später, am 01. Mai 2007, wird wieder ein Kind in dieser Wohnung geboren. Die Geburtsurkunde Nr. 220/2007 dieses Kindes vermerkt den Ort der Geburt nicht genauer, lediglich, dass Liv Lorena Brockmann weiblichen Geschlechts und die Mutter Gabriele Margarete Meseth katholisch ist. Im Kinder-Untersuchungsheft steht unter sonstige Bemerkungen: Hausgeburt.

8 weitere Jahre später, 99 Jahre nach der Geburt des Knaben Namens Kurt, im Oktober 2015, treffen sich einige Menschen vor dem Haus. Dort werden 4 weitere Stolpersteine verlegt. Unter diesen Menschen befinden sich die Tochter des Knaben Namens Kurt und die Mutter des Mädchens Namens Liv.

Die Tochter von Kurt hat allen Grund aufgeregt zu sein. Sie ist aus Argentinien angereist, hat veranlasst, dass die Stolpersteine zum Gedenken an ihre Familie verlegt werden. Sie wird zur Verlegung einen persönlichen Text vorlesen. Herr Seiffert aus der Initiative Stolpersteine, die sich vor Ort um die Vorbereitung und Umsetzung gekümmert hat, trägt seine fundierten Recherchen zum Leben der Familie Löwenstein vor. Das junge Paar hatte sich Konstanz als Wahlheimat ausgesucht. Ich male mir aus, dass sie sich gut eingelebt hatten und am gesellschaftlichen Leben in Konstanz teilnahmen. Sie waren Konstanzer Bürger jüdischen Glaubens.

Die Mutter des Mädchens Namens Liv, dass bin ich, hatte einige Tage zuvor den Flyer im Treppenhaus gefunden, der die Verlegung der Stolpersteine ankündigte. Sie kannte das schon, es wurden ja bereits vier Stolpersteine vor ihrem Haus verlegt. Mit gemischten Gefühlen stolperte sie darüber, dass in diesem Haus nicht nur einfache Geschichten gelebt wurden. In diesem Haus wohnten Menschen jüdischen Glaubens, die von den Nationalsozialisten unter dem Führer Adolf Hitler bestenfalls in die Flucht geschlagen, im schlechten Fall in Konzentrationslagern umgebracht wurden. Zuvor wurde ihnen verboten, ihre Berufe auszuüben und sie wurden gedemütigt. Dabei spielte es keine Rolle, dass diese Deutschen im Ersten Weltkrieg sogar für Deutschland gekämpft hatten.

Also ich wohne in einem Haus, das habe ich damals kapiert, in dem sich die nationalsozialistischen Gräueltaten unmittelbar ereignet hatten. Nicht irgendwo, sondern in meinen vier Wänden. Bei der damaligen Stolpersteinverlegung war Fritz Ottenheimer angereist, der als 16-jähriger Deutschland mit seiner Familie rechtzeitig verlassen konnte und in die USA geflohen war. Er kam mit seinen Kindern und Kindeskindern zurück. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, über das Erlebte zu erzählen und schrieb ein Buch: Wie konnte das passieren? Wenn so viele Menschen aus der eigenen Verwandtschaft von den Nationalsozialisten umgebracht wurden, dann wird das eigene Überleben mitunter zu einer Aufgabe. Etwas davon verkörperte der charismatische, zurückhaltende 83-jährige Mann, der bei der ersten Verlegung der Stolpersteine vor dem Haus stand, mit einem schwarzen Hut auf dem Kopf.

Für mich schien es eine natürliche Geste Ottenheimers einzuladen, damit Herr Ottenheimer seiner Familie die Räume zeigen konnte. Die Wohnungsbegehung fand dann im ersten Stockwerk statt, in dem Ottenheimers wohnten, das Kaffee trinken im zweiten Stockwerk.

Jetzt rief ich die Kinder zusammen, weil mir gerade noch einfiel, dass ja wieder Stolpersteine verlegt wurden und wir gingen nach unten, mitten aus unserem Alltag herausgerissen und gar nicht weiter darauf eingestimmt. Ich wusste nicht, dass die Tochter von Kurt Löwenstein mit ihrem Partner aus Argentinien angereist war. Als ich es realisierte dachte ich spontan, was Ottenheimers schätzten, vielleicht wird es auch Liliana Löwenstein gefallen und lud sie mitten in unser Chaos zum Kaffee trinken ein. Sie nahm die Einladung an.

Das war der Beginn eines Kennen Lernens, eines sich Anfreundens, eines einander Teilhaben Lassens zwischen Liliana Löwenstein und uns. Vielleicht ist es auch ein weiteres sich Anfreunden mit der eigenen Geschichte, mit der Komplexität dieser Geschichte. Bei näherem Hinschauen differenzieren sich die Täter, Opfer und Widerstandskämpfer.

Sich fragen

Liliana kam mit viel Entschiedenheit und Enthusiasmus in unser Leben. Von einem Tag auf den anderen war sie da. Ich muss spontan an den Buchtitel von Simone de Beauvoir denken, „Sie kam und blieb“. Keine Nachricht blieb unbeantwortet, jede Bewegung in unserem Leben wurde mit großer Herzlichkeit und Anteilnahme begleitet. Sie war näher als der Großvater, sie war von Argentinien aus da, in ihren Sprachnachrichten, ihren persönlichen Fragen, in ihrem anscheinend unstillbaren Bedürfnis, uns ihre Zuwendung zu zeigen und es sich ihrerseits zu wünschen. Es war überwältigend. 

Liliana ist eine Frau auf der Spurensuche. Bei ihrem letzten Besuch bei uns, kam sie von Rexingen, wo die großväterliche Familie ihre Beheimatung hatte. Sie traf sich mit Andrea Dettling, die in ehrenamtlicher Aktivität über Jahre das Ortsarchiv digitalisiert und damit die Grundlage für eine computergestützte Suche nach Verwandten geschaffen hat. Ebenso nahm sich Barbara Staudacher für sie Zeit, die sich mit ihrem Lebensgefährten Heinz Högerle im Trägerverein Ehemalige Synagoge Rexingen engagiert.

Ihr Programm ist dicht und aufwühlend. Die Erlebnisse und Eindrücke sprudeln nur so aus ihre heraus. Sie erzählt vom Löwensteinhaus und wie sie auf einem Foto, ausgestellt in der ehemaligen Synagoge, überraschend ihren Großvater als Jungen entdeckt. Sie hat ihn fotografiert und zeigt uns das Foto. Sie hat ihn an der knubbeligen Nase erkannt. Meine Tochter schaut aufmerksam hin und ist beeindruckt. Liliana hat ein Foto von ihrem Großvater als erwachsenen Mann und die Nase ist unverkennbar. Eine neu gefundene Cousine reist mit ihrem Mann aus Israel an, um sich mit Liliana in zu treffen. Ich höre zu, versuche zu folgen. Sie zeigt uns Fotos. Sie schickt uns Fotos. Will ich ganz in ihre Geschichte eintauchen?

Liliana schickt mir ein Foto vor dem Eisernen Steg in Frankfurt. Liebe Grüße nach Konstanz. Sie ist in meiner Heimatstadt. Im Hintergrund erkenne ich die Spitze von St. Katharinen. Ich vermittle ihr einen Kontakt zu meinem Cousin, der noch in Frankfurt lebt. Mit ihm verbinde ich unter anderem das grüne Buch in meinem Regal:  Aus der Geschichte lernen….der Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus…Er hat sich diesen Ausschnitt der Geschichte als Pädagoge zu seinem Sujet gemacht. Er hat keine Zeit und Liliana hat ihr eigenes Programm: Museum Judengasse,  Gedenkstätte Börneplatz, Erinnerungsstätte Synagoge Friedberger Anlage. Spuren jüdischen Lebens in Frankfurt.

Auch ich war mit Anfang 20 auf der Spurensuche nach diesem Leben, war Teil einer Gruppe, die eine Woche Begegnung mit Jüdinnen und Juden initiierte und gestaltete. In dieser Gruppe haben wir uns viel nach unserer Motivation befragt und in der Dokumentation der Woche kann ich folgendes von mir lesen:

„Ich kann die deutsche Vergangenheit nicht rückgängig machen, aber ich will mich dafür sensibilisieren, wie mich diese Vergangenheit prägt. Ich suche die Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit in mir, um in der Gegenwart leben, sehen und handeln zu können, um für mein Leben Verantwortung zu übernehmen. Deshalb suche ich die Begegnung mit Menschen, die Teil dieser Vergangenheit sind,…will zuhören, was sie mir zu sagen haben…“.

Liliana ist eine herzliche Frau mit einer sympathischen, offenen Ausstrahlung. Sie ist klassisch schlicht gekleidet und damit irgendwie zeitlos. Sie nimmt in ihrer Art mütterlich an unserem Leben Anteil und ich vergegenwärtige mir staunend, dass sie keine 10 Jahre älter ist als ich. Ihr Leben zeichnet sich für mich durch Hingabe aus, Hingabe an die Beziehung zu ihrer 94-jährigen Mutter Renate, Hingabe an die Beziehungen zu den Menschen, die sie kennen lernt, auch zu uns. Eine Frau, die im Anteil nehmen ihre Größe findet, und in ihrer Fähigkeit, Menschen für sich, ihr Suche, ihre Ideen zu begeistern. In ihrer unmittelbaren Herzlichkeit hat sie etwas Erfrischendes, Anrührendes, Mädchenhaftes, Zartes und Verletzliches, Zähes und Unbeirrbares. Wir sind nicht die einzigen, mit denen sie sich verbindet, in Kontakt bleibt. Manchmal schickt sie uns Fotos weiter von der Mitarbeiterin des Rosgartenmuseums, stellt den Kontakt zwischen mir und Frau Brüggemann von der Initiative Stolpersteine her, als müsste sie uns alle vernetzen, dafür sorgen, dass wir uns ebenso anfreunden. Es ist beeindruckend.

Liliana arbeitet an der Deutschen Botschaft. Sie ist mit der deutschen Sprache aufgewachsen. Deutsch ist ihre Muttersprache, die bei ihr zu Hause selbstverständlich gesprochen wurde. Bei ihrem vorletzten Besuch bei uns hatte sie an einer Fortbildung im Auswärtigen Amt in Berlin teilgenommen.

Ich könnte Liliana noch meine Tante in Frankfurt treffen lassen. Sie hat sich intensiv mit dem Judentum beschäftigt und Hebräisch gelernt. Manchmal habe ich mich gefragt, ob meine Großfamilie philosemitische Anwandlungen hat, oder wieso es diese Häufung des Engagements gibt. Nicht Nachfahre von ausgewiesenen Tätern zu sein entlastet mich. Mein Großvater war ein uneheliches Kind. Seine Mutter arbeitete in einem jüdischen Haushalt. Sie wurde schwanger. Sie bekam Kleidung für das Neugeborene. Soweit die verschwiegene Überlieferung. Eine Spur, die in die Schande führt oder in die Schuld, vom Katholizismus hergedacht. Eine Spur, die nicht weiterführt, sondern sich im Schweigen verliert. Wir tragen den Familiennamen des Adoptivvaters. Nicht ungewöhnlich für diese Zeit.

Ich sehe den Bus Nummer 1 die Bodanstraße entlangfahren, nachdem ich mich von Liliana verabschiedet habe. Der Alltag ruft mich zurück. Ich laufe zügig, um die Kinder in unserer Wohnung in der Blarerstraße zu empfangen. Der Bus wird um die Ecke fahren und Liliana einsammeln, die an der Bushaltestelle vor dem Bahnhof wartet. Ich bin mit meinen Gedanken noch dicht dabei.

Das Sich Fragen darf weiter gehen.