50 2019

Krass. 50 Jahre soll ich schon auf der Welt sein.

Dabei stand ich gerade erst vor dem Spiegel, war vielleicht 17 und versuchte mir vorzustellen, wie ich mit 50 Jahren aussehen würde. Es wollte mir einfach nicht gelingen. Ich sah durch mich hindurch, als träte dahinter mein Alter Ego in Erscheinung, gereift und weise. Es wollte sich nicht zu erkennen geben oder mir fehlte schlicht die Phantasie. Einzig meinte ich zu spüren, dass ich dann über fast alle Sorgen erhaben sein würde. Ich freute mich schon auf diesen Zustand, es konnte nur leichter werden.

Jetzt also ist es soweit. Ich stehe wieder vor dem Spiegel und mein Spiegelbild schaut mich an. Gereift und weise? Die Augen immer noch braun und freundlich. Die Frau, die mich anschaut, irgendwie ist sie mir sympathisch. Und wieder will es mir nicht gelingen, mir vorzustellen, wie ich mal mit 70 Jahren aussehe. Tränensäcke und Hängebacken, aber die Augen werden freundlich in die Welt schauen und dann ist es auch gleichgültig, wie faltig das Gesicht darum herum ist. Ich ertappe mich, wie ich die Flucht in die Zukunft antrete, statt bei den satten 50 zu verweilen.

Jetzt also 50.

Gezählte Jahre die hinter mit liegen, ungezählte, die vor mir liegen. Sie rahmen diesen Moment ein. Und auch das nicht gelebte Leben. Es ist alles hier versammelt. Meine 50 Jahre, wie viele Atemzüge werden es gewesen sein?

Wenn ich mein Leben in Atemzüge zerlege, dann sind alle Dramen und Liebesgeschichten, die Tragik und die Größe meines Lebens ein immerwährendes ein und aus. Als würde dieser schlichte Rhythmus unbeeindruckt weiter gehen, als böte er mir an, mich getrost darauf zu verlassen, dass er mich mit diesem ein- und ausströmen bis ans Ende meiner Tage begleiten würde, komme, was wolle. Als würde er alle meine Geschichten gleichsam tragen und umarmen, verkörpern und weiterziehen lassen, weil am Ende nur das ein und aus bleibt.

Zum Ein gehört nicht der Anfang, der gehört zum aus dem Mutterleib heraus, vielleicht fängt das Leben ja mit einem Ausatmen an. Es gab Atemzüge, die mich begleitet haben, als ich mich wieder nach dem Verschmelzen sehnte. Wieder eins werden wollte. Ein. Zum Ein gehörten die Steinchen, die ich vom Boden aufgelesen habe als Kind, die Mama und der Papa, nach denen ich die Arme ausgestreckt haben, als ich hoch genommen werden wollte.

Dann direkt im selben Atemzug fast, die Arme, die sich nach mir ausstreckten und ich die eigenen Kinder auf den Arm nahm, um tröstende Nähe zu schenken. Liegt überhaupt etwas Bedeutsames dazwischen?
Vielleicht die vielen Menschen, die ich in meinem Leben umarmt habe.

Den Cousin, den ich zu mir heran zog, kaum dass ich laufen konnte, die Sandkastenfreundin, die ich in meine Arme schloss, wenn wir uns wieder vertrugen, nachdem wir uns gestritten hatten, die Freunde, die ich zurück ließ, als ich mich in den Flieger nach Afrika setzte nach dem Abitur, die, die ich dort liebte und nicht mit zurück nahm, die, die mir ans Herz wuchsen, auch wenn ich nur auf einem Sprachcamp mit ihnen arbeitete, die, mit denen ich auf der Bühne stand, die, mit denen ich über den Tanzboden rollte, die, die ich einfach so ins Herz schloss, die, mit denen ich mein Bett teilte, die, die ich begrüßte und verabschiedete, weil wir aus der Kultur des Händeschüttelns in eine Kultur des Umarmens unbemerkt hinüber geglitten waren,
die, die ich liebte – ein
und die, die ich liebe – aus.

Ich verbinde mich mit Menschen und folge meinem Bedürfnis ganz mit mir selbst zu sein, ein- und aus, beides, das habe ich in den 50 Jahren wohl begriffen, gehört zu mir.
Das Leben war gut zu mir, hat mich stets mit Menschen und Wundern versorgt, die mich gehalten und geheilt haben.
Manchmal habe ich es nicht bemerkt. Irgendwie so bin ich die geworden, die ich bin.

Jahre die hinter mir liegen. Warten.

Ich mache mich früh auf den Schulweg, stehe allein an der Ecke, an der ich die Freundin treffen soll. Meine Füße in Sandalen, wackel ich mit den Zehen und schaue mir die Wolken an. Unendlich. Warten.  Die Angst, ich komme zu spät. Ich sehe sie vor mir. Alle. Sie würden hinter ihren Tischen sitzen und mich anschauen, wenn ich den Raum betrete.
Mein Blick weiß nicht, woran er sich halten soll. Die Litfaßsäule auf der anderen Straßenseite spricht nicht mit mir. Die Zeit füllt sich mit Unbehagen. Sie vertreiben. In Pflastersteine springen ohne die Linien zu berühren. Die Fingerspitzen zusammendrücken. Die Lippen aufeinanderpressen. Die Freundin kommt nicht. Gehen oder warten? Die Pappeln in der Pappelallee wissen keine Antwort.
In Afrika habe ich das Warten trainiert. Ich saß an Treffpunkten und wusste, dass ich nicht wusste, wie lange, aber sehr lange. BMT. Black Men Time. Feucht und schwül die Luft, der Boden lehmig. Surrender. Es blieb mir nichts anderes übrig. Ein- und Aus.
Zählt es auch als warten, als ich als Kind in der Wallfahrtskirche Maria Buchen sitze, zwischen lauter Beinen den Gesängen lausche, die nicht enden wollen?
Habe ich vielleicht auch gewartet, 50 zu werden, weil ich es so gar nicht naheliegend fand, so alt zu werden, nachdem ich wochenlang gewartet hatte, wann es denn endlich vorbei sein würde, das qualvolle Sterben meiner Mutter?

Warten.
Das es anfängt. Das es aufhört. Das es weitergeht. Wieder. Nicht mehr. Noch viel mehr.
All diese wilden Mischungen. Zart und bitter. Kompositionen. Scharf. Explosiv mitunter. Das verpassen die, die versprechen, wenn ich alles richtig mache, fühlt sich das Leben immer gut an.
Wie viele Atemzüge werde ich wartend verbracht haben?
Vielleicht offenbart sich im Warten das Geheimnis.

In mir wohnt immer noch eine Ungeduld, eine Kraft, die sich nicht leicht tut, durch das Warten müssen aufgehalten zu werden. Aber die 50 Jahre haben mich ein kleines bisschen sanfter gemacht. Let it go. Die Vorstellung, wann etwas zu passieren hat und wie es ich anfühlen soll. Sie haben mich freier gemacht. Ein bisschen. Einatmen. Den Zwischenraum Wahrnehmen. Ausatmen. Alles Leben.

Jetzt die Außenperspektive.

Ich verbringe meine Zeit mit Kastanien suchen und Farbfernseh schauen: Biene Maja, Wicki, Kimba, Lassi, Flipper, eins, zwei oder drei, mehr Programme gab es nicht,  mit Michael Schanze, „Plop, plop das heißt stopp“, verbringe die Zeit mit Banden und Bands gründen, währenddessen flimmern die Waltons, der rosarote Panther, BugsBunny oder Dallas über den Bildschirm, dürfen wir bei Heike den Freitags Krimi anschauen, Derrick, der Alte oder Aktenzeichen XY ungelöst. In der Nacht, als die Hand der Leiche aus dem Waldboden schaut wie ein Pilzgewächs, in dieser Nacht liege ich wach und finde keinen Schlaf.  

Die Welt kommt täglich um 20 Uhr in den Nachrichten durch diesen Farbfernseher ins Wohnzimmer. In der Zeit, als ich es noch schwierig finde, Terroristen und Touristen zu unterscheiden, schauen die Erwachsenen betroffen in den Fernseher nach den Anschlägen der RAF.

Es ist die Zeit von Brand, Strauß und Kohl, die Zeit, als sich Politiker Persönlichkeiten noch heraus nahmen markant zu provozieren und deutlich Stellung zu beziehen, die Zeit des kalten Krieges, die Zeit von rechts und links, die Zeit der Friedens- und Anti-Atomkraft Demonstrationen in die ich hineinwachse. Die Zeit der gebatikten Baumwollwindeln und der Jugendtreffen im Gemeindekeller!

Es ist die Zeit von Wählscheibentelefon, von Sonntagsservice, von Kirchgang und Beichte, von Autofreien Sonntagen, Warmhalteplatten und Höhensonne, es ist die Zeit, von Großfamilienfeiern und Kommunion. Es ist die Zeit von Barcley James Harvest, Chris de Burgh und die Zeit, als wir auf Kinder- und Messdienerfreizeiten am Lagerfeuer alle Lieder aus der Mundorgel rauf und runter singen, von eine kleine Wanze über Bella Ciao, Country Roads und Let it be, abgelöst von Pink Floyd, Tina Turner, Dire Straits und Supertramp. Die Songs des älteren Cousins schallen von Ferne in meine Welt, Status Quo, Led Zepplin und Queen.

Es sind gerade noch die Älteren, die sich politisch engagieren, während mein Umfeld als Popper und Yuppies, vereinzelt nur Grufties und Punker, sich auf die eigenen Lebensträume ausrichten und eine Banklehre als Ausbildungsplatz wählen. Die Weltuntergangsstimmung des möglichen Atomkriegs war das Angstszenario meiner Jugend, in dem die Überlebenden in einer apokalyptischen Landschaft entkräftet und verstört umher irrten. Die Geschichten wurden auf Umweltschutzpapier gedruckt und wir schrieben einander Briefe, um in Kontakt zu bleiben. Es existierte keine digitale Welt. Es gab nur die eine Welt und ich riss den Briefumschlag auf, um nach Wochen wieder die ersehnten Zeilen des Freundes zu lesen. Fast will mir scheinen, dass ich im Altertum aufwuchs.

Vielleicht ist es diese eine Welt, die ich mit meinen Kindern teilen will, wenn wir mit schmutzigen Händen am selbst gesammelten Feuer sitzen im Wald und unsere Würstchen grillen. Wir essen sie ohne Teller und Besteck im Brötchen, nachdem wir die verkohlten Stellen weggeschnitten haben. Am Ende ist vielleicht doch alles viel einfacher als es mir scheint. Jetzt bin ich einfach 50 Jahre, bin einfach hier und finde es unglaublich.