Sie besuchte ihn noch einmal. Es war Sommer. Sie saßen im Garten. Selbst im Schatten war die Luft stickig und auch ihr fiel das Atmen schwer. Das Planschbecken war für die Kinder aufgebaut. Er kam nicht mehr allein die Treppe hoch, als sie zurück in sein Zimmer gingen. Sie hielt seinen verbeulten Körper im Arm, war froh, ihn halten zu können. Er fragte: „Was soll denn aus mir werden, wenn das so weiter geht?“ Sie gab keine Antwort. Sie brachte sie nicht über die Lippen.
Und vielleicht wusste sie es. Es ist, wie wenn eine Haut reißt und dir erst in dem Moment bewusst wird, mit wieviel Spannung sie alles zusammen hielt. Und wenn du spürst, dass sie reißt, dann willst du sie zusammenhalten, instinktiv, willst weiter atmen, ein Überlebensreflex, willst weiter sein, die Zukunft mitgestalten. Vielleicht wusste sie, dass es eine Hoffnung außerhalb unserer Haut gibt, die sich ablöst von den Bildern, sich abzieht von den Erwartungen, anfängt zu fliegen, um hinab zu sinken auf den Grund unseres menschlich seins, wo es gerade porös geworden ist, wo durch die semipermeable Membran unser Sein ständig hinaus fließt, um sich mit allem zu verbinden. Vielleicht wusste sie, dass alle Anstrengung vergeblich sein würde, dass sie kämpften um zu erkennen, dass sie nur verlieren, versagen, scheitern konnten, im Kampf um das weiter wie gewünscht. Vielleicht wusste sie, dass sie es nicht wählen konnten, dass sie hineinwuchsen wie die Pflanzen, die sich dem Licht zuwenden. Vielleicht wusste sie es, ohne Worte dafür zu haben.
Trost brauchen nur die Lebenden. Nicht die Toten. K schrieb ihr: Liebe G, ich hab‘ mich gefreut über Deinen Brief, die Fotos. Seltsam – als Du die Fotos gemacht hast, hat J noch gelebt. Jetzt halte ich sie in den Händen und alles ist schon so weit weg und doch noch ganz nah.
J lebt jetzt in mir, um mich herum, um uns herum. Viele Gedanken kreisen um die Frage „Ist das nur mein eigenes Konstrukt, meine Verdrängung – was bleibt für ihn, kann er sich noch als „ich“ erleben?“ Wenn ja, dann könnte ich ihm, wenn ich selber krank würde, folgen. Todessehnsüchte. Nein, ich will doch weiterleben!
Chaotisch ist die Trauer. Ich lebe. Anders. Intensiver. Mit mehr Tränen und mehr Lebenslust, denn je. Das Kind möchte, dass „Papas G“ uns mal wieder besucht. Du bist immer herzlich eingeladen.
Seine geschriebenen Briefe bewahrte sie auf, las sie wieder, fand Liebe in den Verabschiedungen.
G, ich erwarte Dich jederzeit. Weitere Gedanken werden in diesem Augenblick entbehrlich. Alles Liebe. Gerne empfange ich dich, gerne komme ich. Mach’s gut. Sei umarmt. Wir lesen uns, wir sprechen uns. Ich wünsch Dir alles, was Du in diesen Augenblicken, Tagen brauchst Wünsch auch Dir was. Liebe Grüße an die werdende Mutter. Gedankt für die vielen Zeilen. Viel Energie, Gelassenheit und Freude für die kommenden Ereignisse. Lasse uns diese Zeit noch mal ins Auge fassen. Alle sind herzlich Willkommen. Sei umarmt. Freu mich auf ein Wiederhören, lesen, sehen, wie auch immer Liebe G, ich hoffe Du wartetest nicht zu lange auf diesen Brief. Take Time and Care G, ich hoffe auf baldigen, intensiven Austausch. Lieben Gruß an K und das Kind Denke an Dich, Deine Mutter. Deine Situation. Ich freu mich auf ein Wiedersehen mit Dir Nach wie vor freuen wir uns über Deinen Besuch. Viel Kraft, die Chancen zu nutzen wünsch ich dir Alles Liebe und Tröstende. Kathrin grüßt. Augenblicke die in schöner Erinnerung bleiben. Bis du wieder kommst. Lass doch mal von dir hören. Uns ein paar gute Begegnungen in diesem Jahr. Genug geschrieben. J, Heidelberg steht für Dich wieder vor der Tür, ich denk an Dich Seit Monaten ein erster Brief. Wär schön Dich zu sehen G, ich rufe Dich die Tage an. Hat gut getan dir zu schreiben Bis dann. Bis bald. Du siehst, wochenlang denke, schreibe ich an Dich. Hab Dank für die Geduld.
Sie dachte sich eine Performance mit seinen Briefen aus. Performance für einen Zuschauer. Seine Briefe aus Afrika liefen vom Band. Sie hatte sie aufgenommen. Sie schrieb während dessen einen Brief an ihn. Jedes Mal neu. Sie tanzte, sie las vor: …fast so natürlich wie der Kontakt über ein räumliche Distanz hinweg. Ist es das? …Die Performance führte sie drei Mal auf. Das dritte Mal war ihr neuer Freund ihr Zuschauer. Er verstand es nicht. Sie verstand es auch nicht ganz.