Heinrich. Ein neues Café hinter der Stefanskirche. Vor sechs Wochen hat es geöffnet. Ich habe es gerade entdeckt und jetzt sitze ich darin. Cool.
Zum Teil ist noch eine alte Steinmauer sichtbar, rohe Balken als rustikales Outfit an der Decke eingefasst von weiß verputzten Rechtecken, dunkelgründe Würfeloptik, die die Toiletten beherbergt. Draußen stehen sommerlich einladend wirkende Stühle in petrol und frühlingsgrün, in luftiger Optik an einfachen braunbeigen Klapptischen. Die Inneneinrichtung auf unterschiedlichen Höhen, Thekentische mit Barstühlen, eine kleine Empore, quadratische Tische mit Sesseln, bequem in 60ger Jahre Farben, stahlblau, senfgelb, taubengrau.
Irgendwie im Trend. Die Zeitschriften richten sich an eine intellektuell und kulturell aufgeschlossene Zielgruppe: brand eins, dummy, katapult, diaphanes, Frankfurter Allgemeine Quarterly, Prime Surfing, Frame. Das Publikum generationsübergreifend und selbstbewusst.
„Das wir als Menschen stets miteinander verbunden sind und uns einander angleichen.“ Lese ich in meiner Lektüre, passend zum Ort, ein Buch über philosophische Praxis, die Lebenshilfe aus der philosophischen Ecke. Uncool ist out, ist peinlich, ist unästhetisch, unpassend, stört das Bild, könnte diese Aussage übersetzt für diesen Ort lauten.
Und gerade jetzt verliere ich wieder meine Haare. Nicht etwa, weil ich nicht auf sie aufpassen würde. Ich passe sogar gut auf sie auf und nehme sie überall mit hin, zwangsläufig. Aber sie halten sich einfach nicht fest genug. Bei Erschütterungen gehen sie verloren. Nicht alle. Ich staune immer wieder, wie viele noch bleiben, bei den vielen die verloren gehen. Ich schließe daraus, dass ich wirklich viele Haare besitze. Das rührt mich, die vielen Haare auf meinem Kopf, von denen in meinem Gesicht ganz zu schweigen, über den Augen, in der Nase und ein Haar wächst am Kinn, das schickt sich nicht an, verloren zu gehen, ebenso wenig meine Scham- und Achselbehaarung.
Ach und überall liegen meine verlorenen Haare. Spuren, die sie hinterlassen. Im Schlafzimmer, im Badezimmer, in allen benutzen Duschen, im Salat. Neulich habe ich sie in den Spinnnetzen von der Decke gesaugt. Keine Ahnung wie die dahin gekommen waren. Ehrlich nicht. Meine Haare kennen diese Lust Spuren zu hinterlassen schon seit 25 Jahren immer wieder. Keine Altersschwäche. Womöglich fanden sie es schon früh auf meinem Kopf zu langweilig, obwohl ich nicht behaupten kann, ich hätte ihnen nicht viel geboten. Afrika, Amerika, Asien. Also was wollen die überhaupt. Angeborene Abenteuerlust? Das wäre ja cool. Allerdings nur für die Haare.
Katzenhaare, Menschenhaare. Alles Haare. Meine Tochter will auch nicht, dass ich mal aussehe wie meine Tante, bei der mehr Kopfhaut als Haar zu sehen ist. Wer will schon eine uncoole Mutter.
Ich gehe in die Apotheke, kaufe mir Regaine, gegen Haarausfall bei Frauen. Komplett uncool, beides, Haarausfall und ein Mittel gegen Haarausfall auch. Die Firma Johnson und Johnson macht eine Kampagne, bei der ich durch Ausfüllen eines Fragebogens 10€ überwiesen bekommen soll. Eine Frage lautet, einen Werbeslogan für das Produkt vorzuschlagen: Keep cool.
„Dieser gemeinschaftsbildende Anpassungsvorgang gilt aber nicht nur für Kleidung, sondern auch für gesellschaftliche Werte, die zentralen Ideen unserer Kultur und manchmal sogar für unser Aussehen und unsere Körperfunktionen“, steht etwas weiter unten auf Seite 267, in meinem Buch.
Schon schwieriger. Ich war ja schon uncool als Jugendliche bei meinen Künstler und alternativen Freunden, weil ich Messdienerin in der katholischen Kirche war. Dass ich dann auch noch ein Stipendium des Cusanuswerks bekam, bischöfliche Studienstiftung, machte es auch nicht besser. Am besten nicht darüber reden. Mich passend machen. In die Kirche gehe ich nicht mehr, das hat sich also erübrigt, zum Bedauern meines Vaters, ausgetreten bin ich noch nicht. Ob es so viel cooler ist, jeden Abend eine Tarot Karte zu ziehen, weiß ich nicht. Ich habe mich noch nie mit jemanden über mein abendliches Ritual ausgetauscht. Ich finde die Beschreibungen der Karten so schön, vielleicht ist das mein Abendgebet geworden. Gehört auch in die Kategorie Lebenshilfe und Erbauungsliteratur.
Cool: vegan oder paleo, kommt aufs Selbe raus, Hauptsache kein Allesesser.
Mit dem Mountain bike durch die Berge rocken, Gleitschirm fliegen, griechisch lernen und vom Auswandern reden. Alles cool.
Cool oder uncool?
Ich bin aus der klassischen Kleinfamilie ausgestiegen, bzw. ich war ja gar nicht eingestiegen. Zwei uneheliche Kinder mit einem Mann, der schon zwei Kinder hatte. Das Ende vom Lied. Wir leben Patchwork mit zwei Müttern und vier Kindern, ohne den Vater, treffen uns häufig, finden diese vier Kinder miteinander einfach toll, die jetzt schon im Alter zwischen 10 und 20 Jahren sind. Machen Hüttenurlaub in den Bergen und haben so richtig viel Spaß. Einfach cool. Mega.
Glatt rasierte Beine und Achseln. Ein Muss. Also immer die Klingen schärfen. Aussehen als ob der Mensch vom Affen abstammt. No Go. Wir sind im Barbie Zeitalter. Glatt und Makellos. Animalisch war gestern. Ich also uncool. Ich muss gestehen, ganz habe ich es nicht durchgehalten. Ich entferne die Haare in meinen Achseln seit kurzem mit einem Rasiermesser. Schamhaare zu frisieren ist auch voll im Trend. Was soll ich dazu sagen? Wenn es Freude macht. Ich habe meinen Kompromiss gefunden. Ein wenig Rebellion, ein wenig Anpassung. Wie das aussieht? Das überlasse ich der Phantasie der Leserinnen.
Cool oder uncool?
Neurologische höhere Erregbarkeit. Hoch Sensitive Personen. Sensorisch und kognitiv höhere Feuerungsquote. Mehr sehen, hören, fühlen, empfinden, denken, mit allen erdenklichen Nebenwirkungen. Meinen Ausprägungsgrad empfinde ich schon als Überdosis. Oh je, die Menschen, die noch mehr Erregbarkeit abbekommen haben, eine echte Aufgabe.
Der Vorteil in meinem Fall, alles ist Quelle von staunen, fragen, aufgeregt sein, es nicht blicken, unpassend noch dazu, halt durch und durch uncool, so, wie ich mich eben oft fühle. Dafür tief, intensiv und verrückt, ängstlich, mutig und lebendig. Viel cooler.
15.10. 2017