Ich streue die allerletzten Blüten über den Sarg.
Er lag darin in seinem maßgeschneiderten Anzug. Ich konnte ihn nicht sehen, der Sargdeckel war geschlossen, aber ich wusste es, seine Frau hatte ihm die Sachen rausgelegt, dem Bestatter wohlgemerkt, der uns bat, sie in eine Tüte zu tun, da er sie mit nach vorne nehmen wollte.
Sie kamen zu zweit, um ihn abzuholen.
BEING THERE.
Das Licht brannte und das Radio spielt laut. Einen Tick lauter als Zimmerlautstärke. „Es ist doch noch nicht so weit“, sagte mein Vater und wand sich hin und her, rief, und ich sah ein, dass mein Versuch ihn zu beruhigen vergeblich war. Also legte mich wieder hin, stand auf und legte mich wieder hin, half ihm, versuchte ihn zu ermutigen, Ruhe zu finden. Stand auf und legte mich wieder hin. Gern wäre ich bei ihm geblieben, statt immer ins Nebenzimmer auf die elektrisch aufgeblasene Matratze auszuweichen, auf der auch ich mich hin und her wandte. Ob meine Wechseljahre einsetzen? Wieso blieben meine Blutungen aus? Können meine Gedanken mal mit diesen erbärmlichen Fragen aufhören.
Ich durfte nicht bei ihm im Zimmer bleiben, er würde sich vielleicht daran gewöhnen, wer solle das machen, wenn ich nicht da wäre? Auf Dauer? Das war wohl die Hoffnung derer, die mit ihm alltäglich lebten.
Er lag auf der Seite, die eine Hand fast unter seinen Kopf geschoben, lag und schlief, wie ein Kind, als ich am nächsten Abend kam.
Ich saß im Zimmer nebenan. Er rief nicht. Er war ruhig. Ich war ruhig. Und saß und wachte.
Wortfetzen in meinem Kopf.
„Champagner stärkt für die letzte Reise“, sagte der Pfarrer, als er mit ihm anstieß.
„Tanzen wollte er mit mir“, sagte Helene seine Frau, als ich kam.
„Ich freue mich schon auf Ostern, wenn ihr wieder für mich Musik macht“, sagte er, als die Kinder musiziert hatten und wir alle zusammen Weihnachten feierten.
„Bis Morgen“, sagte er, als ich mich verabschiedete.
Ich schrieb:
Meine Mutter ist an die Pforte gekommen. Sie lächelt meinem Vater zu, winkt. Sie erwartet ihn. Sie ist geduldig. „Unsere Kinder machen es gut, Du kannst sie lassen, Du kannst sie in diesem Körper verlassen. Hier bei mir wirst Du ihnen besser dienen!“ Wir haben es gut gemacht. So eine tolle Familie gegründet. Ich habe so viel Freude daran. Das Tor ist offen.
Mich selbst öffnen für die Stille, die Zeichen, die Überraschungen, die Intuition.
Ein Nagel rutscht aus der Wand. Ein Bild fällt. Ein Glas zerspringt.
Ich fühle meine ganze Kindheit in mir, meine Kindheit in Steinbach, alle Zellen jubilieren. Es ist ganz da. Ganz Heimat. Ganz Geborgenheit. Ganz Zugehörigkeit. Ganz Kind. Ganz nah. Ich bin nicht die Frau von heute. Ich bin das Kind von damals. Es ist gut, dass mein Vater noch atmet und ich da bin.
Er war noch ganz warm, als ich ihn am Morgen in seinem Zimmer fand. Ich wusste es schon, als ich das Zimmer betrat, obwohl er sich mit bis Morgen von mir verabschiedet hatte. Ich schaute zu, wie die Wärme und das Leben entschwebte und uns der immer wächserne Körper zurückblieb. Leblos.
Es ist gut, dass ich an seinem Bett sitze und er nicht mehr atmet. „Du hast es geschafft. Du hast es so gut gemacht. Ich bin stolz auf dich“.
Ein Teil von mir wusste, dass Du es gut machen wirst.
Danke, dass ich in deiner Nähe sein durfte. Danke, dass ich dir im Moment des Übergangs nah sein durfte. Du hast einen guten Zeitpunkt gewählt. Ich bin so dankbar. Auch für die Momente, in Deiner Unruhe noch für Dich da zu sein oder hier zu sitzen, als Du noch geamtet hast und Dir zuzuschauen, wie Dein Atem immer schwerer wird. An Deinem Fußende am Boden zu liegen, wie in Steinbach, wo ich an Eurem Fußende geschlafen habe. Einfach mit dir im Raum zu sein. Ihr wart ganz tolle Eltern. Die Besten.
Die beiden Männer vollführten ihre Choreographie routiniert. Kein zerren und ziehen, kein hieven und schuften. Ein großes weißes Tuch, dass sie jeweils aufrollten an Kopf- und Fußende des Bettes, wo sie ihren Platz eingenommen hatten, es unbemerkt unter den Körper zogen, den Körper sanft drehten und ihn dann in dem Tuch auf die Trage legten. Die Totenstarre hatte eingesetzt, der angewinkelte Arm winkte aus der Trage heraus. Und nun? „Was machen sie jetzt?“ fragte ich den Bestatter. „Bisschen massieren, dann lässt der sich schon hinbiegen“, kam die Antwort. Ins Tuch einschlagen, festzurren, ab ins Kühlhaus. „Lieb sein, bitte lieb sein“, bringe ich noch hervor, „sind wir doch sowieso“, bekomme ich zur Antwort.
Ich reiße die Fenster auf. Flieg. Seele flieg. Habe ich mal gelesen.
Ich war gewappnet. Und obwohl es viel zu schnell ging, weil er sich doch noch ausruhen wollte, weil er doch müde sein musste, von der Strecke zum letzten Ziel, von der Zielgerade, weil er doch noch bei uns sein wollte, zu tanzen und Champagner zu trinken, weil es doch ein Fest war, das Leben, weil er doch bis morgen zu mir gesagt hatte, weil sich das Haus doch füllen könnte mit Menschen und er wieder mitten dabei wäre, weil es doch kein Ende nehmen sollte, weil er doch gewartet hatte, bis alle wieder gegangen waren, weil ich gern noch etwas bei ihm geblieben wäre, jetzt, wo er friedlich eingeschlafen war, war es gut und würdig, wie sie ihn in den cremefarbenen Leichenwagen schoben.
Das Haus füllte sich mit den Stimmen der Anrufenden. Alle sprachen sie gleichzeitig, alle hörte ich sprechen. Sie webten aus ihren Stimmen ein Netz, dicht, wie das weiße Leinen, um ihn darin zu bergen, um uns die Tränen zu entlocken, denn was wäre ein Abschied ohne die reinigenden Sturzbäche, die wie Kaskaden einer ungeschriebenen Partitur folgen.
Die Bestatterin lud uns in ihren Ausstellungsraum. Sie war die Mama, groß und weich und klar und sortiert. Sie die Schaltstelle, Mann und Sohn die Ausführenden ihrer Aufträge. Sie, von der wir uns dankbar an die Hand nehmen ließen, weil die Tränen, die gemeinsam geweinten, so ein schönes Flussbett fanden, dass es einfach floss und einfach war, die Tochter und kleine Schwester zu sein, weil seine Frau und der große Bruder klare Vorschläge und Vorstellungen hatten. So könnte ich einfach mit schwimmen und mein bloßes Gewicht war es wohl, das dafür sorgte, dass keine Welle so viel Fahrt aufnahm, dass sie über uns zusammengeschlagen wäre. Der Eichensarg mit dem runden Deckel, der sollte es sein, da waren wir uns schnell einig. Es gab keine anderen als die goldenen Griffe. Dann halt die die goldenen Griffe.