Dinge, die verschwunden sind März 2016

Manche Menschen können schneller tippen als mit der Hand schreiben. Beneidenswert. Und es gibt solche und solche Autoren. Ich gehöre zu denen, die das Kratzen des Stifts über das Papier brauchen. Ich werde also das handschriftliche Manuskript in Ehren halten. Vorläufig wenigstens.

„Dinge, die verschwinden“, heißt Jenny Erpenbecks Sammlung der Dinge, die aus ihrem Leben verschwunden sind. Alles ist vergänglich. Bis wir selbst verschwinden. Uns eines Tages vom Acker machen. Das Verschwundene. Irgendwie ist es ein schönes Wort, tröstlich. Eines schönen Tages wird auch die hippe vegane Ernährung verschwunden sein, so wie jetzt die kalten Platten mit Happen und Häppchen aus Dr. Oetkers kalter Küche verschwunden sind. Die Kochbücher, wie auch die kalten Platten.

Die Kochbücher standen im Küchenschrank, über dem Ofen, der mit einer Klappe nach oben zu öffnen war. Da stehen sie, während mir meine Mutter die Haare föhnt. Es ist ein Samstag. Wir sind klein und wurden abgeduscht. Die Haare müssen ganz trocken geföhnt werden, sonst erkälte ich mich, sagt meine Mutter. Eine der Wahrheiten, mit denen ich groß werde. Später ist es dann auch so. Mein Bruder trägt einen braun-grün-weiß gestreiften Bademantel, meiner hat in der Erinnerung die Farbe des Bademantels meiner Tochter angenommen. Es ist der Kinderbademantel meiner Freundin, den sie meiner Tochter geschenkt hat. Rot mit pilzförmigen weißen Punkten. Nach dem Föhnen wird der Rollladen herunter gelassen. Es ist Winter. Es ist schon dunkel. Die Höhensonne wird aufgeklappt. Wir ziehen die ovalen Augenschutzklappen aus dunklen Plastik über die Augen. Mein Gummi ist ausgeleiert und muss fester zugeknotet werden. Das Licht wird ausgeschaltet, die Bademäntel werden ausgezogen, der Schalter UV A+B auf der Höhensonne wird gedrückt. Das weiße Licht flackert rhythmisch. Um die Langeweile und die Kälte zu vertreiben, springen wir nackig durch den Raum. Wie lange noch? Wie lange noch? Das ist unser Tanz, zu dem wir mit den Füßen trommeln. Das Licht ist gefährlich. Es darf nicht in die Augen gelangen. Die Brille darf während meines wilden Tanzes nicht verrutschen. Es ist mir etwas unheimlich. Wie lange noch? Es gibt noch den Schalter Rotlicht. Fünf Stäbe beginnen rot-orange zu strahlen und es wird warm, wenn ich auf diesen Schalter drücke. Ich darf mich davor setzen, wenn ich erkältet bin.  Am Ende wird die Höhensonne wieder zugeklappt. ZU. Und in den Schrank gelegt, neben die rote Warmhalteplatte. Höhensonne und Wärmeplatte nutzen das gleiche Kabel. Das mit dem großen Stecker, der in die Geräte gesteckt wird. Die Warmhalteplatte ist leuchtend rot mit orangefarbenen etwas eckigen Spiralen, die in viele kleine unsichtbare Quadrate hinein gemalt sind. Wenn ich dran bin, sonntags den Tisch zu decken, hole ich sie aus dem Schrank und stelle sie mitten auf den Tisch, mitten auf das weiße Tischtuch. Das dicke schwarze Kabel stört die Ästhetik. Darauf kommen die Teller mit dem Weinlaub.

Meine Haushaltsführung lässt in jeglicher Hinsicht zu wünschen übrig. Kein Sonntagsmenü, kein zeitgemäßes Service. Die zusammen gewürfelten Erbstücke müssen herhalten, deren Goldrand durch die Spülmaschine zu zeitgenössischer Kunst mutiert oder gänzlich verschwunden ist. Kein Kirchgang, keine Untertassen, die Kannen sind in den Keller ausgelagert, keine rituellen Tänze vor der Höhensonne, allenfalls Vitamin D Kapseln.

Spätes Sonntagsfrühstück im Wohnzimmer. Meine Tochter hat sich beim Tisch decken gestalterisch ausgelebt. Die rote Becker zum roten Eierbecher zum roten Eierlöffel, dazu das ausgewählt passende Frühstücksbrettchen. In der Tischmitte vor diesem Sitzplatz wird die Erdbeermarmelade platziert, die rote Müslidose und die Äpfel. Vor dem gelben Sitzplatz sammeln sich Käse und Honig, dazu die Erdnussbutter mit dem gelben Deckel, RAPUNZEL lässt grüßen. Wenn es kalt genug ist, gibt es ein Feuer im Kamin. „Mama, ich kann den Tisch doch toll decken“, erwartungsvoll schaut mich meine Tochter an. „Ja, ich bin begeistert“. Das ist eine ehrliche Antwort. Also unerwartet tauchen Dinge auf, wenn wir welche verschwinden lassen. Tröstlich, dass das Verschwinden das Auftauchen mit sich bringt. In denen von Traditionen geleerten Räumen scheint das Andere, das Neue auf. Meine Kinder wachsen nicht mit dem Verschwundenen, sonder mit der kreativen Lust am Aufgetauchten auf, was auch wieder verschwinden wird, um Neuem Platz zu machen.

März 2016