Wir alle sind sterblich 2020

Wir sind alle sterblich 1

Ich beobachte, wie ich versuche, alles was passiert zu begreifen. Dabei lese ich kreuz und quer und versuche zu ergründen, um was es geht. Es beginnt, indem ich versuche, die Dimension in ein Verhältnis zu setzen.

Ich versuche es zeitlich:

Noch vor 100 Jahren sind hier bei uns Kinder an Lungenentzündungen gestorben, Mütter im Kindbett und das Leben hatte seine Spuren hinterlassen, wenn man es dann schaffte 70 Jahre alt zu werden. Dann war der Körper verbraucht und eine nächste Erkrankung konnte den Abschied aus dem Leben bedeuten. Die Lebenserwartung lag in Deutschland 1950 bis 1955 bei 67,5 Jahren. Weltweit ist die durchschnittliche Lebenserwartung in allen Ländern um mindestens mehr als 10 Jahre gestiegen, in den Malediven um 41,8 Jahre, in Dänemark und den Niederlanden um weniger als 10 Jahre. Das kann ich im Internet nachlesen. Aus der Perspektive aus betrachtet, ist unsere Lebenserwartung ein Wachstums- und Wohlstandsfaktor, eine Errungenschaft der letzten 70 Jahre.

Ebenfalls vor ungefähr genau 100 Jahren zwischen 1918 und 1920 forderte die sogenannte spanische Grippe zwischen 25 Millionen und 50 Millionen Todesopfer weltweit. In einem Artikel aus dem Berliner Tagesspiegel (https://www.tagesspiegel.de/wissen/coronavirus-und-spanische-grippe-im-vergleich-die-mutter-der-modernen-pandemien/25662134.html)  fand ich einige bemerkenswerte Anmerkungen:

Erstens: Auch damals war die Welt schon global vernetzt:

Im Gegenteil: vor 1914 war die Welt über internationale Waren- und Migrationsströme bereits extrem globalisiert – so wäre das Virus mit Sicherheit auch ohne Truppenbewegungen in Umlauf geraten.

Zweitens: Auch damals gab es Verschwörungstheorien:

Verschwörungstheorien, die die Krankheit zum Teufelswerk deutscher Agenten oder zu Folgeschäden von Giftgaseinsätzen erklärten, waren in den USA an der Tagesordnung – ebenso in Frankreich und Südafrika.

Drittens: In den Städten, die große Veranstaltungen absagten und soziale Kontakte beschränkten starben deutlich weniger Menschen und vieles hatte vermutlich mit grundlegendem Wissen zu tun

St. Louis hingegen setzt um, was bei uns vor ein paar Tagen zum kategorischen Imperativ gesundheitsbewusster Gesellschaften avanciert ist: handele so, dass sich die Seuchenkurve abflacht. Da das Gesundheitssystem hier, anders als in Philadelphia, nicht ruckartig kollabiert, sterben deutlich weniger Menschen.
Jedoch gebe es auch andere Regionen, in denen umfassende Maßnahmen weniger gebracht hätten, sagt Eckard Michels. „Dies hatte aber auch damit zu tun, dass über die Verbreitungsweisen solcher Viren viel weniger bekannt war als heute“. 
So habe es in der Schweiz, in der es ebenfalls zu einem vergleichsweise radikalen Shutdown der Öffentlichkeit kam, prozentual genauso viele Krankheits- und Todesfälle gegeben wie in Deutschland, das seuchenpolitisch viel weniger agierte.

Viertens: Jede Zeit hat ihren eigenen Umgang mit Krankheit und Tod

 „Alles in allem aber sah man die Spanische Grippe weder in Berlin, noch in London oder Washington als vordringliche Aufgabe an“, sagt Michels. Viele Gesellschaften hatten mit Krankheiten wie Fleckfieber und Tuberkulose zu kämpfen, da wurde die Spanische Grippe trotz ihrer hohen Letalitätsrate nicht für besonders wichtig erachtet – zumal es auch keine ausgeprägte Erwartungshaltung an den Staat gab, als gesundheitspolitischer Akteur in Erscheinung zu treten.
Eine kollektive Erfahrung, wie man sie dieser Tage erlebt, hat es seinerzeit nicht gegeben. Ebenso wenig wie eine transnationale Debatte, die in der vom Krieg zerklüfteten Welt sowieso nicht hätte stattfinden können.
Durch die Häufigkeit von Seuchenkrankheiten und den Ersten Weltkrieg war das Sterben ein normaler Bestandteil der zeitgenössischen Erfahrungswelt. So war die Spanische Grippe nach den Worten des Medizinhistorikers Alfons Labisch zwar „ein echter Killer, aber keine skandalisierte Krankheit“.
Vielleicht ist es daher kein Wunder, dass es kaum Orte der Erinnerung gibt. Dabei wird sie in den USA, wo die Spanische Grippe das größte demographische Desaster des letzten Jahrhunderts darstellt, aber stärker rezipiert als in Europa, dessen Erinnerungsressourcen mit den Weltkriegskatastrophen und insbesondere mit dem Holocaust relativ stark ausgeschöpft sind.
So schlimm die derzeitige Corona-Krise auch ist: Eckard Michels zufolge ist die große mediale, politische und gesellschaftliche Aufregung auch Ausdruck eines historischen Privilegs. „Die jetzige Situation führt uns vor Augen, dass wir zumindest in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg von echten Katastrophen verschont geblieben sind.“  

Die Menschheit hat schon einiges durchgestanden und tragisch zuschauen müssen, wie Krankheit Menschenleben vor ihrer Zeit beendete.

Ich versuche es räumlich:

Wie viele Menschen sterben täglich an den Folgen fehlender Hygiene, Mangelernährung und nicht ausreichend vorhandener medizinischer Versorgung? Wieso unternehmen wir nicht täglich die gleichen Anstrengungen, um gegen deren Tod zu kämpfen, wie wir jetzt als Weltgemeinschaft unternehmen, um die Ausbreitung dieser Pandemie bestmöglich zu verlangsamen?

Die Statistiken sind meiner Meinung nach nicht vollständig. Es fehlen die Spalten der Tode wegen anderer Krankheiten, Unfällen, Kriegen, Altersschwäche. Ich möchte die Folgen einer weiteren Todesursache, nämlich die dieser Viruserkrankung ins Verhältnis rücken. Und vielleicht ist das Wort „weitere“ das eigentliche Drama. Womöglich werden mehr Menschen im gleichen Zeitraum sterben wegen der Ausbreitung eines Virus. Mich erschüttert es weit mehr, wenn dort, wo die Lebenserwartung ohnehin gefährdet ist, wie auf der Flucht und in Lagern, in Kriegs- und Krisengebieten, kaum Schutz vor der Ausbreitung des Virus und Kampf gegen die tödlichen Folgen geleistet werden kann. Ich staune immer wieder, wie unterschiedlich um Leben gekämpft wird.

Ich folge der Spur meiner Angst, denn auch in mir will sie sich ausbreiten.

Zunächst mit meinem psychologischen Wissen:

Angst ist ein sehr unangenehmes Gefühl. Wir tun sehr viel dafür, nicht mit der Angst in Kontakt zu kommen. Die Angst vor Krankheit, Alter, Abhängigkeit, Gebrechlichkeit, angewiesen sein auf Andere, nicht mehr so können, wie wir wollen, haben wir mittels unseres medizinischen Fortschritts insofern in den Griff bekommen, dass wir wünschen, hoffen und glauben, mit einer entsprechend gesunden Lebensweise und der Unterstützung unseres medizinischen Systems, gesund alt zu werden, wobei alt ab 90 Jahre aufwärts gedacht wird. Wir haben den Umgang mit Krankheit und Tod an das medizinische System delegiert.

Ich bin dankbar, in einem Land zu leben, dass mir diesen Fortschritt zur Verfügung stellt. Sonst hätte ich die verschachtelte Blinddarmentzündung nicht überlebt als Anfang 20-jährige, sonst hätte meine Tochter ihre Lungenentzündung als Kleinkind nicht überlebt. Ich hänge an meinem Leben und an dem der Menschen, die ich liebe. Dennoch habe ich auch gelernt, dass wir es auch mit dem medizinischen Fortschritt nicht in der Hand haben. Meine Mutter starb mit 57 Jahren an Krebs, ein Herzensfreund mit 31 Jahren ebenfalls an Krebs. Der Tod ist in den meisten Biographien jenseits der Statistiken gegenwärtig.

Gerade lese ich ein Buch, in dem es um das Dilemma geht, das wir als einzige Spezies um die eigene Endlichkeit Wissen und wieviel Einfluss das auf unser Leben hat. Drei amerikanische Sozialpsychologen haben in 500 verschiedenen Studien, die sie in den letzten 30 Jahren durchgeführt haben, herausgefunden, dass Menschen, konfrontiert mit ihrer eigenen Sterblichkeit, messbar andere Entscheidungen treffen und andere Urteile fällen.

Ich fand die Studien einfallsreich und die Ergebnisse eindrücklich. Grob zusammen gefasst tun wir unbewusst alles, wenn wir in Kontakt mit unserer eigenen Sterblichkeit kommen, um unser Selbstwertgefühl zu stärken und uns damit bestmöglich zu „immunisieren“. Wenn reich und schön sein selbstwertstützend ist, tun wir alles dafür, dies zu erreichen. Im Umkehrschluss stellt sich die Frage, woraus können wir in unserer Gesellschaft Selbstwert generieren und wie bedeutsam ist es, unser Wertesystem gesamtgesellschaftlich zu überprüfen und zu verändern. Hier könnte eine Chance in der Krise liegen.

In Bezug auf die gegenwärtige Situation fand ich folgende Aussagen im Buch bemerkenswert:

 „Auch die verstärkte Hinwendung zu kulturellen Werten als Abwehr gegen die unbewusste Beschäftigung mit dem Tod kann erstaunliche Auswirkungen auf Haltung und Verhalten in Bezug auf gesundheitsrelevante Themen haben. Menschen, für die die moderne Medizin zum eigenen Weltbild gehört, hängen ihrer Meinung mit vermehrten Eifer an und verhalten sich entsprechend, wenn sich ihr Unterbewusstsein mit dem Tod befasst….Auch weltweite Ideologien können übrigens für Widerstand gegen medizinische Behandlungen sorgen.“ (aus:  Solomon, Greenbert, Pyzczynski, Der Wurm in unserem Herzen, S.260ff).

Zunächst kann jeder von uns in dieser Situation gut nachvollziehen, welchen kulturellen Werten er oder sie angehört. Dies zeigt sich darin, welche Links wir bevorzugt lesen und weiterleiten. Wir rücken näher an die Meinung heran, die unser subkulturelles Weltbild uns nahe legt. Ich kann das in meinem Handeln gut nachvollziehen.

Noch eine andere Studie fand ich im jetzigen Zusammenhang eindrücklich:

„In einer anderen Studie sollten Medizinstudenten erklären, wie sie einen Patienten mit einer schweren Lungenerkrankung behandeln würden, der von seiner Familie mit Atemnot in die Notaufnahme gebracht wird. Obwohl der vermeintliche Patient zum Zeitpunkt der Einlieferung bei klarem Bewusstsein war und apparative lebenserhaltende Maßnahmen ablehnte, waren diejenigen, denen man zuvor ihre Sterblichkeit ins Bewusstsein gerufen hatte, fest entschlossen, sein Leben so lange wie möglich zu erhalten. Ihre Behandlungsentscheidungen waren klar getragen von der eigenen existentiellen Angst und nicht vom Wunsch des Patienten.“ (aus:  Solomon, Greenbert, Pyzczynski, Der Wurm in unserem Herzen, S.303).

Die Lektüre führt mich zu der Frage, wie ich persönlich mich meinen bewussten und unbewussten Ängsten stelle, wie ich versuche, psychologische Sicherheit zu generieren und was es bedeuten kann, konstruktiv und bestmöglich mit dieser Herausforderung unseres Mensch seins umzugehen. Und sie führt mich zu der Frage, inwieweit unbewusste Abwehrstrategien der eigenen Todesangst auch Entscheider in Politik und Gesundheitswesen im Zusammenhang mit der Corona Krise beeinflussen.

Wir wollen das medizinische System arbeitsfähig halten, indem wir es nicht durch eine Überlastung durch zu viele Erkrankungen gleichzeitig in eine ohnmächtige Situation bringen, nicht genug Ressourcen zu haben, um allen unterschiedslos zu helfen. Wovor also haben wir Angst? Haben wir Angst, mit der Realität konfrontiert zu werden, dass es womöglich eine Illusion war, auch in unserem Land, dass das medizinische System für alle immer ausreichend Ressourcen hat? Durch die Fähigkeiten unseres Systems haben wir die Bewältigung vieler Erkrankungen zum Status Qua erhoben. Vor 100 Jahren sah es noch anders aus. Auch der Begriff von Gesundheit, Gesunderhaltung und Lebenserwartung ist gewachsen. Haben wir Angst, uns eingestehen zu müssen, dass auch hier die Grenzen des Wachstums unerwartet durch einen Virus aufgezeigt werden? Haben wir Angst, dass wir vor das unlösbare Problem gestellt werden, wie wir uns verhalten sollen, wenn auch zukünftig die HighTech Medizin nicht die Kapazität hat, allen kranken Menschen zu einem längeren Leben zu verhelfen, weil der benötigte quantitative Umfang nicht zur Verfügung steht? Haben wir Angst, zur Demut gezwungen zu werden, doch nicht Gott gleich, uns selbst Gesundheit bis ins hohe Alter zuzuschreiben, weil wir doch alles richtig machen? Haben wir Angst, unsere Liebsten zu verlieren, selbst viel zu früh zu sterben?

„Wir sind Tiere und wie alle Lebewesen sind wir biologisch darauf programmiert, uns gegen vorzeitige Auslöschung zu wehren.“ (aus:  Solomon, Greenbert, Pyzczynski, Der Wurm in unserem Herzen, S.309). Dies macht den Kampf gegen einen Virus folgerichtig. Auch der Kampf für die eigene Nation (z.B. aufwendige Rückführungen deutscher Reisenden) ist sozialpsychologisch nachvollziehbar. Die Ansteckung wird als tödliche Bedrohung, kein sozialer Kontakt bedeutet Sicherheit. Solidarität ist das Schlüsselwort, da durch Vorerkrankung und Alter geschwächte Personen als Risikogruppe benannt werden. Aber die Solidarität auf der einen Seite bringt die Bedrohung auf der Anderen. Durch die Digitalisierung hat ein Teil der Bevölkerung die Möglichkeit, ihre Arbeit von zu Hause aus fortzusetzen. Alle, deren Arbeit auf das soziale Miteinander angewiesen ist, können ihrer Arbeit nicht mehr nachkommen: Veranstalter, Künstler, Musiker, Gastronomen, die Tourismusbranche, die Liste ließe sich noch endlos fortsetzen. Die Reduzierung der einen Angst durch Vermeidung sozialer Kontakte führt zur nächsten Angst. Die um die materielle Existenz. Also sind wir bei den beiden existentiellsten Ängsten gelandet: Die um das gesundheitliche und materielle Überleben. Wobei das eine eng mit dem anderen verknüpft ist. Menschen mit weniger materiellen Ressourcen haben eine geringere Lebenserwartung.

Schon setzen die nächsten Überlebensreflexe ein. Petitionen, die es aus Solidarität zu unterschreiben gilt, ist nur einer davon. Es scheint, als legitimiere der Kampf um das physische Überleben die wirtschaftlichen Opfer. Hier kommt es zu einem Interessenkonflikt, der bisher noch eindeutig gelöst wird. Das Virus ist der Feind, der eint. Diese Eindeutigkeit schafft eine klare ethische Ausrichtung und bringt einen Frieden mit sich, da die Handlungsmaximen bisher eindeutig sind. Das hat zunächst etwas Heilsames: Wir bündeln unsere Kräfte im Kampf gegen das Virus, sprich gegen den Tod. Auch die Zusagen der wirtschaftlichen Unterstützung für die, deren Existenzen gefährdet sind, wirken beruhigend: Wir bündeln unsere Kräfte im Kampf gegen den wirtschaftlichen Zusammenbruch. Dafür bin ich dankbar. Da will ich ganz bei denen sein, die die Krise als Vorbote eines gesellschaftlichen Wandels sehen, der Undenkbares möglich werden lässt und neue Grundlagen der Solidarität und des Miteinanders entstehen.

Aber wir wie können wir der Angst begegnen, um die es geht?

Und wie können wir die Weichen stellen, dass das, was uns eint, über die Krise hinaus anhält: Dass ein aufrichtiges menschliches Miteinander im Angesicht unserer aller Sterblichkeit das selbstwertstärkende Moment unserer Kultur werden und bleiben darf? Wie kann das die Grundlage für eine Umverteilung der Achtung und Anerkennung, der Güter und des Besitzes werden?  Was wäre ein posttraumatisches Wachstum auf die Gesellschaft übertragen? Es werden neue Herausforderungen kommen, vielleicht auch in Form von gnadenloseren Erkrankungen.

Das besondere unserer Zeit ist die Möglichkeit der digitalen Vernetzung. Ist es eine der Menschheit dienliche Entwicklung, auf wirklichen sozialen Kontakt zu verzichten und so viel von zu Hause aus lösen zu können?  In diesem Moment scheint es so. Und es bleibt zu beobachten, ob uns diese bequeme und vermeintlich sichere Möglichkeit zu einem zurückgezogenen Leben in den eigenen vier Wänden verführt? Oder loten wir Nähe und Distanz global neu aus und bedeuten die jetzt neu sich etablierenden digitalen Lern- und Arbeitsmöglichkeiten ein neues soziales Miteinander? Fragen, auf die wir noch keine Antwort geben können, aber die es lohnt im Blick zu behalten.

Ich beobachte meine Strategien, mit der Angst umzugehen, natürlich mit dem Wunsch, mich bestmöglich zu konfrontieren, um mein Leben im positiven Sinne zu riskieren bereit zu sein. Mich hat ein Buch der französischen Psychoanalytikerin und Philosophin Anne Dufourmentelle inspiriert, mit dem provokanten Titel: Das Lob des Risikos. Sie stellt darin die Frage, ob wir „unser“ Leben verlieren können, wo es uns nur sehr begrenzt gehört: „Wie können wir etwas verlieren, das uns nicht gehört? Das Leben ist uns, ob wir gläubig sind oder nicht, anerkanntermaßen geschenkt. Und doch gehört es uns nur sehr begrenzt – das Letzte, was uns zu eigen ist, das letzte Ereignis, das wir erleben, die letzte Einsamkeit, die wir erfahren, und der Ort der größten Hoffnung. Vielleicht liegt sie dort, die Quelle intensiven Lebens, das mit den Toten paktiert hat, mit dem Gedächtnis und mit der Geschichte derer, die es nie mit Worten vermitteln werden können. Vielleicht verbirgt sich dort das Risiko „unseres“ Lebens, das absolut einzigartig ist und uns doch nicht gehört. Doch nur wir haben es gelebt und sind von ihm verändert worden.“ (Aus Das Lob des Risikos, S. 133)

Für mich steckt darin das Paradox, dass nur ich mein Leben lebe, darin in den existentiellsten Momenten ausschließlich auf mich zurückgeworfen bin und dass es sich auch einfach nur durch mich lebt, das Leben, was wie mein Leben wirkt. Ein Leben, dass mit den Toten paktiert, ist ein Leben, das weiß, dass die Toten schon die Grenze überschritten haben, die uns Lebende von den Toten trennt, dass es möglich ist, dass sie uns die Erfahrung voraus haben, dass sich diese Erfahrung, in dem was wir unser Leben nennen, ereignet. Vermutlich ist es eine Erfahrung von Transzendenz, die über mich hinausweist, die mich zu beruhigen imstande ist.

Ich frage mich, ob wir nicht zukünftig neu diskutieren müssen, wie wir den Beginn des Lebens und das Ende begleiten wollen, und was es bräuchte, um diese Übergänge wieder in unser soziales Miteinander, in unsere Wohnräume und Häuser zu verlegen? Ob diese Momente nicht in das Zentrum des familiären zusammen seins gehören, anstatt sie überwiegend in den Krankenhäusern stattfinden zu lassen. Was braucht es, um die Angst zu verlieren, sterbende Angehörige zu Hause zu begleiten, die Angst vor dem eigenen Sterben zu reduzieren, eine würdige Sterbekultur zu etablieren?

Vielleicht ist in unserer zukünftigen Gesellschaft dafür Zeit. Vielleicht müssen wir weniger outsourcen und Ärzte damit überlasten. Vielleicht können wir uns mehr als menschliche Familie spüren und natürlich füreinander da sein? Vielleicht ist das, was in vielen Wohnprojekten Vision und Wirklichkeit werden will, auch in gelebter Nachbarschaft möglich? Vielleicht können wir von anderen Kulturen lernen, das Sterben als natürlichen Vorgang zu integrieren. Vielleicht muss er uns nicht mehr soviel Angst machen. Ich würde es mir wünschen, dass wir das miteinander lernen. Der Tod ist kein Versagen.

Was mache ich, um in dieser Situation mit meiner Angst umzugehen?

Ich verbinde mich mit Menschen, die sich auf das positive ausrichten, spirituell, in dem ich meditiere, konkret, in dem ich die ermutige und stütze, die tätig werden.
Ich verneige mich vor dem Schicksal und bitte um die Weisheit, dass zu tun, was der Menschheit dient, solange ich gesund bin und die Möglichkeit dazu habe.
Ich genieße den Alltag mit meinen Kindern.
Ich bleibe in der psychologischen Praxis präsent für die Menschen, die innerlich und äußerlich an ihre Grenzen kommen, immer in der Abwägung, welches Risiko damit einhergeht, Menschen persönlich in der Praxis zu sehen.
Ich liebe.
Ich streichle meinen Kater.
Ich treffe mich mit mir wichtigen Menschen.
Ich genieße unsere wunderbare Natur im Frühling.
Ich schreibe.
Ich sage mir, wir sind alle sterblich, das verbindet uns als Menschen, das lässt uns Teil der Natur sein, wer von uns welche Zeit und welche Aufgabe hat, wissen wir nicht.
Lasst uns das Beste daraus machen.

Ende März 2020

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Wir sind alle sterblich 2

Es ist einen Monat später. Die Welt musste wieder Atem holen. Sie hat nicht vorbereitet genug trainiert, die Luft anzuhalten. Die Menschen, die dürfen, kommen wieder auf die Straßen, die Läden stellen ihre Waren vor die Türen, die Wiesen und Plätze füllen sich wieder – mit Sicherheitsabstand. Es sterben immer noch täglich Menschen an den Folgen der Ansteckung mit Covid-19, es stecken sich immer noch täglich Menschen an, es unterscheiden sich immer noch die Zahlen, wieviel Prozent denn jetzt daran sterben, andere Nachrichten haben wieder eine Chance verbreitet zu werden. Es stellt sich etwas wie Gewöhnung ein. Und es ist erstaunlich, woran sich der Mensch gewöhnt, wenn er keine Wahl hat.

Schlagzeilen werden bestimmt von der Frage – für wen gibt es als erstes den Impfstoff – und wer darf wieder arbeiten, Geld verdienen, weiter machen wie bisher? Gibt es eine Rückkehr zur Normalität und wie hinterlässt die Erfahrung ihre Spuren.

Für jeden ist die Erfahrung eine Andere, abhängig vom Ausmaß der Betroffenheit, durch Angst, weil ich zur Risikogruppe gehöre, durch Berührung, weil ich im Gesundheitssystem arbeite, durch existentielle Gefährdung, weil ich in einer Branche arbeite, die zur Verbreitung eines Virus beiträgt und unklar ist, wann welche Normalität wieder auferstehen wird. Gestern sprach ich mit einem Kneipier einer Dorfkneipe. „Die Kneipe ist tot“, sagte er, „auch wenn ich wieder aufmachen darf, haben die Menschen Angst, in einem Raum an Tischen zu sitzen. Ich habe keine Terrasse. Sie werden nicht wiederkommen“.

Wie beeinflusst die Erfahrung, dass wir täglich trainieren mussten, dass Nähe bedrohlich ist, unser zukünftiges Denken, Entscheiden, Handeln? Und ich meine nicht nur auf der Ebene der politischen Entscheidungen, sondern wie hat es Einfluss auf mich genommen und wie verhalte ich mich womöglich ohne es zu merken anders?

Letztlich ist mein Schreiben ein Plädoyer für die persönliche Auseinandersetzung. Zu leicht schreibe und denke ich von mir weg. Es betrifft mich nicht, weil ich nicht zur Risikogruppe gehöre, weil ich nicht existentiell gefährdet bin, weil ich nicht allein bin. Diese Aussage trifft zu. Und gleichzeitig ist die Erfahrung, wenn ich ehrlich bin, eine andere. Und das ist die Chance. Wenn ich ehrlich bin, habe ich Angst gespürt, weil unvorstellbares Geschehen ist und die Folgen überhaupt nicht absehbar waren und sind. Ich habe Angst gespürt, wie gefährdet mein Leben und das meiner Liebsten ist, ich habe Angst gehabt, dass vieles, was für mich Selbstverständlich war, was Errungenschaften unserer Gesellschaft sind, nicht mehr gilt. Ich darf mich nicht mehr frei bewegen und die Menschen, an öffentlichen Orten treffen, sie einladen, ihnen nah sein, Workshops anbieten, wie es mir beliebt. Ich darf meinen Beruf nur mit Auflagen weiter ausüben. Wüsste ich nicht weshalb, würde ich noch mehr Angst bekommen. Und hier beginnt die große Herausforderung für die Zukunft.

Welches Ziel legitimiert welche Mittel? Und welche Wertkonflikte können wie diskutiert werden?

Wenn ich die übergeordneten Deutungen weglasse, dann hat im Rückblick die Welt die Frage so beantwortet: ein vorzeitiger Tod durch Covid-19 ist nicht hinnehmbar. Jeder und jede muss unabhängig von den Voraussetzungen staatlich medizinisch versorgt werden. Um dieses Ziel zu gewährleisten, sind alle wirtschaftlichen und sozialen Opfer gerechtfertigt, darf in die im Konsens erarbeiteten Grundrechte eingegriffen werden.

Dass unsere politischen Entscheider sich auf ein Ziel festgelegt haben, den Konsens der Bürger vorausgesetzt, die dazu zur Verfügung stehenden medizinischen Ressourcen möglichst gerecht und gleich zu verteilen, ist ethisch hochstehend. Es ist ein wünschenswertes Ziel. Es ist eine wirkmächtige Utopie. Es ist eine Sehnsucht. Und es ist eine Gefahr.

Für mich ist es eine Engführung des Denkens. Und es verschleiert die Tatsache, dass sich gerade im Angesicht des Todes jeder selbst der Nächste ist, dann die eigene Gruppe, die eigene Nation. Wenn ich mich selbst und das Geschehen in der Welt mit dieser Brille anschaue, wird es sichtbar. Grenzschließungen, Verteilung von Schutzanzügen und Masken.

Die Konfrontation mit der eigenen Sterblichkeit aktiviert unbewusst bestimmte Überlebensreflexe, die nur durch Bewusstmachung zu verändern sind.

Wie können wir politisch eine zukunftsweisende Utopie entwickeln, in der wir unsere Sterblichkeit so integrieren, dass Lebensqualität und Sterbensqualität wieder an oberster Stelle stehen? Wie bereit sind wir, wieder etwas von der Errungenschaft der Moderne herzugeben, den vermeidbaren, vorzeitigen Tod an vorderster Front zu bekämpfen und dafür solidarische Nähe und ein Miteinander im Leben und im Sterben zu ermöglichen.

Wenn ich es für mich durchdenke, dann fällt es mir tatsächlich auch schwer, Lebenszeit versus Freiheit gegeneinander abzuwägen. Im Extrem scheint es eine leicht zu beantwortende Frage. Ich persönlich möchte nicht im Alter allein in einem Zimmer im Heim leben, um mein Leben nicht zu gefährden durch die reale Nähe von Menschen. Ich möchte eine Haltung entwickeln, mein Leben als kostbar zu erachten, aber mich nicht daran zu klammern und es um jeden Preis verlängern zu wollen. Natürlich weiß ich nicht, wie mir das im Zweifelsfall gelingt. Welche (psychologischen) Fähigkeiten müssten wir schulen, wollten wir uns für die Freiheit der Wahl und für reales menschliches Miteinander entscheiden, statt vorgegeben für die vermeintliche Sicherheit eines möglichst langen Lebens in sozialer Distanz.

Aber die Erfahrungen dieser Zeit stellt noch andere Fragen. Welche Qualität von Nähe brauche ich wirklich und wo tut es mir gut, mehr Zeit mit mir und wenigen ausgewählten Menschen zu verbringen? Wo verführen mich die Möglichkeiten ständig, über meine Grenzen hinaus mein Leben zu füllen mit Eindrücken, sowohl beruflich und privat? Was ist mein Maß und was brauche ich, um mich für mein Maß zu entscheiden und mich nicht verführen zu lassen?

Vielleicht ist viel gewonnen, wenn jeder und jede sich überlegt, was möchte ich persönlich anders machen, nach den Erfahrungen in dieser Zeit, jenseits von politischen Entscheidungen und Weichenstellungen. Was ist mir bedeutsam geworden? Wofür möchte ich mich einsetzen, in dem ich es alltäglich lebe, mich dazu bekenne, wenn ich gefragt werde, öffentlich werden? Was sind meine persönlichen Werte, wenn ich zwischen menschlicher Nähe und Sicherheit für mein Leben abwägen muss?

Wir hoffen ja alle, dass diese Entscheidung nach Corona sich nicht mehr so stellt. Die Frage ist nur, ob es nicht in aller Menschen Bewusstsein ist, dass es immer die Möglichkeit einer Ansteckung mit einem Virus gibt, der tödliche Folgen haben kann, diesseits und jenseits von Covid-19, und was dieses Bewusstsein mit uns macht. Das andere Pandemien kommen werden. Das unser eigener Tod kommen wird, jenseits aller Statistiken, wann immer das Schicksal es vorsieht.

Ende April 2020

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