Löcher 10.10.20

Überall sind Löcher, hast du erst einmal angefangen auf sie zu achten, siehst du sie überall.

Jedenfalls in dem alten Appenzeller Haus ins Waldstadt, in dem der Maler Otto Bruderer lebte. Statt des Malers, der mit dem Hammer die Nägel in die Wand schlägt, um eines seiner Bilder aufzuhängen, sind da noch die Löcher, in denen mal Nägel in den Wänden aus Holz steckten. Daneben sind die Löcher der Holzwürmer, die ein eigenes Universum abbilden. Ich finde auch unzählige Nägel ohne Bilder. Da sind die Nägel, die messingfarbene Pilzköpfe haben, geköpfte Nägel, Fußsockelleistennägel, Nullachtfünfzehnnägel und in den Raum ragende lange Nägel, neben dem steinernen Waschbecken, an denen eine Bürste hängt. Und nicht nur Nägel finde ich, auch Haken und Reiszwecken, an denen Papierfetzen hängen geblieben sind. Die Löcher und die Nägel gehören irgendwie zusammen. Die Löcher ziehen mich magisch an, als könnte ich in sie hineinkriechen. Ich weiß gar nicht, ob es sich in den Löchern wie in einer Höhle anfühlt, dunkel und geborgen, oder ob sie ein Geheimnis bergen oder meine Welt darin verschwindet.

Hände tasten nach mir, aber ich bin ganz in den hintersten Winkel des Einbauschrankes in der Dachschräge gekrochen, habe mich eingerollt und die an der Stange hängenden Kleider über mich gezogen. Das allerbeste Versteck habe ich gefunden. Ein Dunkelloch. Mir gefällt es in dieser Dunkelheit, je besser, je länger sie mich birgt und die anderen mich vergeblich suchen. Ich höre wie meine Freundin mich ruft und ein sorgenvoller Klang mitschwingt. Ich bleibe im Dunkelloch, in dem ich selbst nur bin, weil ich die herabhängenden Säume auf meinem Kopf spüren kann. Sonst wäre ich aufgelöst in der Dunkelheit, die mich ganz verschluckt.

Als ich das erste Mal mit Sie von einem Kind auf dem Gemeindehof angesprochen wurde, tat sich ein verstörendes Loch in mir auf, aus dem die Gewissheit hinaussickerte ein Kind zu sein, das einmal erwachsen wird. Wie konnte ich in den Augen dieses Kindes ein Mensch sein, der so wirkte, als müsse man ihn mit Sie ansprechen? Dieses Loch, dass ich für dieses Kind schon Erwachsen war, entwickelte eine beängstigende Sogwirkung.  Was, wenn es diesen erwachsenen Zustand, an dem sich alles sortiert und sicher wird, nicht geben wird, wenn ich schon groß war, mich aber nie groß und erwachsen fühlen würde. Überall taten sich Löcher auf. Meine Welt war voller Löcher und sie sickerte durch dieses nächste und übernächste Loch hinaus. Ich konnte sie nicht aufhalten: das zerstörte Nagelbett, die wachsenden Schamhaare, Menschen auf der Straße, die Geld von mir wollten, die geliebte Oma, die plötzlich Wildschweine auf dem Dach sah und nach Hause wollte, die fehlende Mutterbrust. Das Leben bestand zunehmend aus Löchern, aus denen meine Welt floss. Vielleicht lief alles darauf hinaus, von dem schwarzen Loch im Universum verschluckt zu werden, dass sich Masse und Galaxien einverleibt, in dem ich mich schließlich auflösen würde.

Hier im Haus mit Blick auf den Säntis, hier ist klar, das Schicksal und der Lauf der Dinge, sie hinterlassen Löcher wie diese in der Wand. Meine Welt ist eine durchlöcherte, eine geschichtsträchtige Welt.

Haben die Löcher hier im Haus Heimweh nach den Nägeln, die Nägel nach den Bildern und die Bilder nach dem Maler? Ruft in diesem Haus jedes einzeln Loch OTTO, OTTO, OTTO? Und Otto, darf ich ihm überhaupt so nah kommen, dass ich die Löcher in der Wand berühre, mit dem Finger darüber streiche? Und die Bilder, die nicht mehr an den Nägeln hängen, aber alle noch in diesem Hause aufbewahrt sind, hunderte von Aquarellen, Zeichnungen, Skizzen, Ölgemälden, die in Kisten stehen, dieser unglaubliche Schaffensdrang, erzählen sie mir auch von den Löchern? Gibt es denn diese Sehnsucht nach den Zuständen des Davor, vor dem nächsten Loch, die Sehnsucht nach dem Paradies?

Das androgyne Dreiviertelprofil mit den traurig blickenden Augen, schwarz wie die Nacht, den sinnlichen Lippen, ein heller cremefarbener Schatten bildet den Kontrast zu den dunklen Konturen, den Brauen. Die Augen schauen gerade an dem Haken an der Wand vorbei. Das Rot auf den Lippen, es taucht einzig als roter Fleck im Augenwinkel auf, das Gesicht hat einen Teint aus Schichtungen Bronze, Gold, Türkis ins Grau gleitend. So ersteht die Figur auf der Leinwand, schaut mich mit einem eindringlichen Blick an, ist anwesend.

Und die aus einem Aquarell mit wenigen zielsicheren Kohlestrichen geschöpfte Frauenfigur, braune Pagenlocken, die Haltung im Hohlkreuz, Bauch voraus, drei weiße Knöpfe schließen den Mantel. „Ich fühle das Genie in mir“, schreibt Otto sorgfältig als Titel auf das Passepartout mit Bleistift direkt unter das Bild. Ist sie schwanger, die Frau, oder fühlt sie selbst das Genie in sich oder er?

Ich bewege mich in der Welt Otto Bruderers und freunde mich mit seinen Figuren an, beobachte, wie sie sich Blicke zuwerfen, wie sie sich verständigen in den Kisten, in die sie gestellt wurden. Fast komme ich mir kritisch beäugt vor, wenn ich sehe, wie sie unter ihren halb geschlossenen Liedern geschärft in diese Welt schauen. Da sind die tanzenden Mädchen mit den wehenden Haaren, da steht ein Clown im Münzenregen und hält die Hände, als würde er jonglieren. Und es sind ja viel zu viele, Mädchengesichter mit Schleifen im Haar, welche mit wilden Locken, Männer mit Hüten, Glatzen, Zipfelmützen, Holzschnitte mit Pfeifen, expressionistische Märtyrergesichter, gehäutete Gesichter, Musikmachende, Lesende, Landschaften, Stadtansichten. Ich verliere mich in der pinkfarbenen Sonne und den blauvioletten Kreiseln, die das weiße Licht umranden, versinke in den Strukturen des vielschichtigen Farbauftrags, der Reliefs zu tage fördert bei genauem Hinsehen. Hinter einem Kristall ragt ein expressionistisches Frauenportrait auf.  Das Grau des Hintergrunds schimmert in ihrem Gesicht. Der Hausgiebel vor dem Fenster bezieht sich auf den Säntis, der an der Wand hängt. Der Säntis vor dem Haus hängt im Nebel. Die Krümel auf dem Tisch sind der erdige Sand aus dem Wald, der in der Stube hängt. Der alter Drehlichtschalter zeigt in dieselbe Richtung wie die Nase des krausen Lockenkopfes auf dem Gemälde und der schwarze Punkt auf dem Schalter erwidert Blick des Mannes auf dem Bild.

Der weiß geschminkte Pierrot hebt den Blick, schaut er geradewegs in die Stube in der wir sitzen. Ivo hat Kalbshaxe zubereitet. „Hier bekommt man beim Metzger doch noch gutes Fleisch“, sagt er freudig. Peter hat in Brockenhäusern Material gesammelt, um mögliche Anordnungen auszuprobieren, die sich wiederum auf Bilder von Otto Bruderer beziehen, diese in Kontexte stellen und Fragen aufwerfen. Planung zweier Ausstellungen. Ivo arbeitet mit den Fotografien von Franco, seinem verstorbenen Bruder an der Ausstellung: Mein Bruder und ich. Der Arbeitstitel: Die Präsenz des Abwesenden.

Auch ich bin auf den Spuren dieses gegenwärtig Abwesenden gewesen. Vielleicht musste deshalb der Säntis im Nebel hängen bleiben, abwesend und präsent. Vielleicht musste ich deshalb die Löcher berühren, die den Verlust von Welt und Selbst und geliebten Menschen markieren. Die Löcher sind die Hauptsache. Als ich wieder abreise, haben sich die Löcher meines Seins mit den Farben und Geschöpfen dieses Hauses vermischt. Wie gut, dass es Löcher gibt. Unzählige Löcher.