Schon wieder hinke ich hinterher. Oder eile ich voraus?
Auf meiner To-Do-Liste steht beharrlich das Wort BLOG.
Da gibt es eine Textsammlung Frühstücksgespräche 1-2-3, datiert 4.- 6. Januar. Die Tage, wo der Säntis vor meinem Fenster hingegossen lag, ich schreiben durfte im Otto-Bruderer Haus, das Ivo Knill in einen Ort gewandelt hat, der zu kreativen Auszeiten einlädt. Ivo war da zum Schreiben, Arbeiten, Sein und ich auch.
04.01.2022
Nach dem gemeinsamen Frühstück kehre ich an meinen Schreibplatz mit Blick auf den Säntis zurück. Ich lasse den Stift absichtslos über das Papier gleiten.
Der Dampf steigt aus meiner Tasse auf, er bildet kleine Wirbel, große Wirbel, spiralt, tanzt, umarmt, gebärdet sich leicht und luftig. Für Momente nur ist er sichtbar, bis er sich auflöst.
Die letzten Gedanken aus unserem Frühstücksgespräch wirbeln wie der Dampf in meinem Kopf. „Es sind wohl die schweren Lebenserfahrungen, an denen ich gewachsen und gereift bin“, sagt Ivo, „aber es braucht doch auch das Glück, das neue Türen öffnet, damit das Leichte wieder einen Zugang findet“.
Und dieser Satz trifft auf den Dampf aus der Tasse, so bin ich plötzlich zwanzig Jahre alt, stehe im Kuhstall, der in der Tor-Weg Wohnung als Materialsammellager dient. Die Spiel- und Theaterwerkstatt Frankfurt hat ein Bibliodrama-Seminar angeboten. Vier Tage. Ich glaube an den heiligen Geist. Die blutjunge Psychologiestudentin zwischen lauter Theologen und Pfarrern.
Es ist Februar und eiskalt. Wir schlafen wir in der Knechtskammer und bauen uns Lager aus Matratzen und Decken, die da thronen auf den schwarz gestrichenen Dielen in der leeren Kammer. Wir, das ist diesem Fall Nulf, der mit mir die Matratzen hin und her schiebt und dabei mit seinem lila Federflauschschal wedelt. Ein extravaganter Typ, der erzählt, dass er in der Tiefe seines Herzens ein Kabarettist ist und ein eigenes Bühnenprogramm hat. Wir lachen viel und ich fühle mich wohl.
Im Workshop widmen uns jeden Tag einem Wort. Ich – glaube – heilig – Geist. Während wir improvisieren, suchen, spielen, bin ich ganz in meinem Element. Jeder soll etwas mitbringen, was für ihn heilig ist. Ich lande im Kuhstall, greife zu einem Wasserkessel aus Blech, ganz schlicht, laufe unter dem Torbogen auf die andere Seite in die Wohnung und mache das Wasser heiß. Der Dampf steigt auf, der Kessel fängt nicht zu pfeifen an. Schade eigentlich.
Am letzten Morgen wache ich in der Knechtskammer auf und alles dreht sich. Ruhig bleiben, flüstere ich mir zu, ganz ruhig bleiben, das geht gleich vorbei. Nur keine Panik bekommen. Ich versuche, ob es besser wird, wenn ich mich aufrichte, atmen, ich drohe gänzlich zu kollabieren. Ich wecke Nulf. Der holt Wasser und etwas zu essen. Nein, Essen doch nicht, bloß nicht essen. Da sich noch alles dreht, sterbe ich nicht. Also abwarten. Keine Aufregung. Nichts brauchen. Nicht in Tränen ausbrechen. Oder doch. Heimlich. Wenn alle weg sind. Aber vor allem nicht bewegen. Immerhin ist mein Zustand irgendwann so stabil, dass ich mir zutraue, einfach allein liegen zu bleiben, zu warten. Gänzlich unbekannt ist mir der Drehschwindel nicht. Diesmal schlägt er richtig zu. Die anderen bereiten ihre Abschlusspräsentation in kleinen Gruppen vor. Ich liege da und rühre mich nicht vom Fleck. Will ich zu viel, dreht sich wieder alles. Alles dreht sich, schreibe ich. Dann fließt ein Text in mein Tagebuch, in die Chinakladde mit Bergen, gezeichnet in orange und rosa und den goldenen Teehäusern auf dem Umschlag. Da wächst ein Vorhaben in meinem Kopf. Ich könnte doch aus dem Text meine Abschlusspräsentation machen. Nein, zu abwegig. Doch. Nein, zu intim, zu gewagt, zu gewollt, zu peinlich. Aber irgendwie auch nichts mehr zu verlieren. Ich habe das ALLES DREHT SICH überlebt. Der Dampf steigt aus dem Kessel während ich lese und inszeniere. Eine Türe geht auf.
Hier überrollt mich eine Flutwelle der Dankbarkeit, weil die abgründigen Erfahrungen zu Geschichten gerinnen, in denen das Glück sich beheimatet, urplötzlich, mich ergreifend, ein Glück, das in einer Knechtskammer wohnt, in der wir unsere Ohren einander auf die Brustkörbe legen, tönen oder lauschen, bis wir ein großes vibrierendes Ganzes werden.
Der Säntis flirtet indes mit den Wolken, die ihn an der obersten Spitze kraulen, während gegenüber am Gasthaus Sternen die weiße Farbe von den Holzschindeln abblättert. Im halb geöffneten Fenster im Giebel bewegt sich die Gardine leicht, bevor alles wieder ganz still ist.
Vielleicht ist es der Geist aus der Flasche, der auch die Erinnerungen aus dem Wasserdampf leicht werden lässt, immer leichter fühlen sie sich an, die großen Brocken aus der Schatztruhe meines gelebten Lebens, in der die Steine beginnen zu schweben und das Heilige funkelt.
05.01.2022
Ist es der frühe Morgen, der unbeschriebene Tag oder das unbeschriebene Jahr, oder das Aufeinandertreffen von uns zwei Schreibenden? Was macht die Fragen groß? Wir versuchen Worte zu finden, uns heranzutasten, wieso wir machen, was wir machen.
Es ist Eines, dass wir beide stets den Stift in die Hand nehmen und die Momente des Glücks und des Suchens mitwandern lassen auf dem Papier.
Es ist ein Zweites, dass wir andere Menschen ermutigen, zu schreiben, um sich anrühren zu lassen von einem Leben, das sich in Worten herausschält. Genau dieses Unfertige, eben zu Papier gebrachte darf sich dann Lesend ereignen in dem Resonanzraum einer Gruppe. Der eigene Text stößt auf Menschen, die darauf reagieren, sich mitbewegen, sich widersetzen, ein- und aussteigen. Das ist groß.
Und es ist noch etwas Drittes, den eigenen Texten eine Bühne zu bereiten, sie anzuordnen, umzuordnen, in Zeit und Raum hinein zu gestalten und zu spüren, dass sie sich darin selbst behaupten, sich wandeln, ihre eigene Kreativität entwickeln.
Darüber sprechen wir, weil Ivo 26 Kurzgeschichten vorlesen wird an vier Wochenenden als ein stündliches Ritual, die nach dem Tod seines Bruders Franco entstanden sind. Wozu so ein Projekt, das vor allem Arbeit bedeutet? Für Ivo ist es ein Kreuzweg, bei dem er an jeder Station ein Licht anzündet. Es ist eine nochmalige Konfrontation mit dem Prozess, wo alles in Unordnung blieb, Ivo ständig mit dem Stift dabei, Ordnung zu schaffen. Es ist ein rituelles Abschreiten eines Raumes, weil es die Texte so wollen, weil es nicht anders geht, weil Ivo diese Anordnung wählen muss. So lauten die Antworten auf meine Fragen, wieso diese Form, die zeitlich raumgreifend ist. Vier Wochenenden in Folge hat Ivo sich diesem Vorhaben verschrieben. Ivo kommt gleichmütig daher, mag einer zuhören oder nicht, er wird die Texte lesen und sich dabei aufnehmen, als seinen Akt der Widmung? Oder was genau für ein Akt ist es, Texte zu lesen, die auf dem Boden gewachsen sind, die ein selbstgewählter Tod eines Bruders bereitet, über dem der Himmel dieses Bruders aufgegangen ist? Und welcher Notwendigkeit folgt die Inszenierung, die für Ivo gerade keine ist, da die Texte sich genau einer Inszenierung, einer Auswahl verweigert haben.
Und ich sitze hier im Haus und bereite mich darauf vor, auch ein Teil dieser Wochenenden zu sein, da an jedem Wochenende um 16 Uhr eine Gastlesung stattfinden wird. Die ungeschriebenen Briefe, der Text, auf den diese Einladung folgte, hat eine lange Reise hinter sich. Grundlage der Geschichte waren Briefe eines vor bald 30 Jahren verstorbenen Freundes. Daraus entwickelte sich eine Protagonistin, die aufbricht, bis nach Afrika reist, bis sie merkt, dass sie sich nicht entkommen kann. Sie konfrontiert sich mit den verschwiegenen Sehnsüchten nach dem fernen Geliebten, der nichts von seinem Glück weiß. Was heißt es für die junge Frau, mitten in der Fremde auf die Suche nach sich und der Liebe zu gehen? Während Ivo der Priester ist, der seinen Gottesdienst hält, der etwas erfahren und feiern will, mögen wenige kommen oder viele, bricht bei mir diese 20-jährige aus, die spielen will und verschiedene Varianten einer szenischen Lesung im Wohnzimmer probt. Die Spielfreudige reist bis nach Afrika und zurück.
Womöglich sind es die anwesend abwesenden Toten, die uns zuflüstern, drittens tut ihr, was ihr tun müsst, auch wenn es Arbeit ist.
Unter http://www.ottobrudererhaus.ch/ finden sich alle Informationen zu den Lesungen.