die schreibende und ich 6

beyond

die schreibende
Die Schweizer Flagge an der Hauswand hat sich an der Unterseite befreit. Die Bändel an den Ecken schlagen im Wind. Eine sandfarbene Fassade ragt ins Fenster und die geöffneten Fensterläden stapeln sich vor meinen Augen. See, auslaufende Hügel, versprengte rote Hausdächer, dunkelgrüne Bäume, die wie Moos auf den Hügeln sitzen.  Ein Himmel wie eine andauernde Variation in weißgrau. August.

Wieder darf ich nicht nur schreiben, obwohl sie es mir versprochen hat. Es hätte das Abenteuer des leeren Raumes beginnen können. Die Wahrheit ist, sie fürchtet sich davor. Sie mit mir in diesem leeren Raum.

Die Schreibende redet nicht mehr mit mir. Sie ist beleidigt.
Ich mache einen Kurs. Somatic Performance. Ich habe mich intuitiv entschieden, die Schreibende fand es doof, dass sie jetzt den Freiraum schon wieder mit der Performancekünstlerin teilen soll. 
Ich weiß nicht, was mich genau erwartet. Forschen.
Auf dem Flyer steht:

Das Grenzgebiet von Gegenwart und BeYond ist liminal: gerade nicht mehr, noch nicht, nicht mehr hier, nicht dort.

Alles in Auflösung. Zeitlich. Räumlich. Wandel. Das kommt bei mir an. Da gehöre ich doch hin. Liminal. Das Wort habe ich noch nie gehört. Es klingt schön. Limits und final. BeYond final Limits. Ich werde mehr darüber herausfinden.

Die Performerin ist in den letzten Jahren zu kurz gekommen, gerade ist sie mal wieder am Auferstehen mit dem Performance Trio 3NUN.
Mich ausdrücken mit meinem Körper. Forschen. Beyond. Ich brauche es, mich zu nähren. Wieder anknüpfen. Vor 20 Jahren in Amsterdam gab es diese intensive Phase in der Ausbildung in Body Mind Centering: BMC. Körpersysteme und Muster mit Bewegung, Berührung und Verkörperung erforschen.

Wilma, die den Kurs anleitet, kenne ich, weil wir vor einigen Jahren zusammen performten im Krematorium Nordheim in Zürich. Sie ist eine eigenwillige Performancekünstlerin, Tänzerin, Schreibende, Sprühende. Wir schöpfen aus der gleichen BMC Quelle. Das verbindet uns, und noch viel mehr, was wir spüren und nicht benennen. Ich zapfe wieder den Reichtum meines menschlichen Körpers an, dieses Wunderwerk, katapultiere mich durch die Arbeit in Zustände, die mir viel offenbaren, jenseits der Kontrolle meines Großhirns.

die schreibende
Ich habe mich ergeben. Ich mache das Beste daraus. Aber nach Außen schmolle ich weiter. Nicht, dass sie auf die Idee kommt, das beizubehalten, das mich in  Zwischenzeiten zu schieben. Sie wirft mir Wörter zu, die ich auffange, die ich überall hinschreibe. Auf den Boden, auf die Haut, an die Wände, in die Zellen. Das wird ihr nicht gefallen. Ein bisschen Rebellion muss sein. Dennoch hat sie mich infiziert mit ihrem body awareness. Liminal. Nicht mehr und noch nicht, habe ich mitgeschrieben. Cerebellum habe ich noch aufgeschrieben und Lebensbaum. 20 years ago. Shifting weight.

Ich frage nach, wie Wilma liminal übersetzen würde. Es gibt keine Übersetzung. Liminal ist das Wort. Das Wort wurde von einem Ethnologen namens William Turner geprägt. Er beschreibt damit Schwellenzustände, Zwischenzustände, Zwischenräume. Diese Zustände gibt es in der biologischen Entwicklung, z.B. in der Pubertät, aber es ist auch möglich, dass sich Sozialordnungen auflösen und neue entstehen. „Während der liminalen Phasen befinden sich Individuen in einem mehrdeutigen Zustand“, lese ich im Internet dazu. Mehrdeutigkeit. Vielleicht ist mein BeYond eine liminale Welt und ich bin darin eine Mehrdeutige.

Es ist alles wieder da. Diese Auflösungserscheinungen von Zeit. Das Gefühl von Ursuppe. Diese Anleitungen, die direkt am Großhirn vorbei meine Körpersysteme ansprechen, dieses herumliegen und sich unfokussiert bewegen, shifting weight.  Das Kleinhirn braucht ein bewegliches Becken, braucht Instabilität, braucht einen Kopf, der mit dem beweglichen Becken in Verbindung bleibt. Mal mit Klängen. Mal ohne Klänge. Ich bewege mich. Ich forsche. Ich verliere mich.

die schreibende
Sie torkelt durch den Raum, fällt, fängt sich, spielt mit Momentum und Schwerkraft. Ganz ehrlich. Sie überrascht mich. Die ganze Zeit hat sie bei mir nur gejammert, dass ihr alles weh tut. Rücken, Kopf. Beine. Alles. Dann liegt sie am Boden herum, als wolle sie sich liegen lassen. Das schreibe ich. Ich lasse mich herum liegen. Ich versuche zu begreifen, was sie da macht. Sie bleibt in ihrer Körperblase. Liegt großzügig herum. Sie bleibt in ihrer Blase. „Bleiben ist am schwierigsten“, sagt sie zu mir. So ein Blödsinn. Sie kann nicht bleiben, weil die Blase platzt. Sie wartet bis die Blase platzt. Das schreibe ich. Jede Blase platzt.

Einzelne Sätze, die bleiben. Ich erzähle der Schreibenden davon. Sie bleibt unbeeindruckt. Ich zitiere Wilma: Your score of arriving. Change. Langsamkeit bricht die Muster. Was ist beyond für Dich? Um das beyond zu finden, muss ich das Diesseits erforschen, begreifen. Um beyond control zu explorieren muss ich wissen, wie kontrolliere ich? Um mich von meinen Vorstellungen zu lösen, muss ich sie kennen. Wie wirken sie? Meine Bilder eines gelungenen Lebens? So viele bedeutsame Fragen. So viele Schritte auf dem Weg beyond me.

Bleiben mit dem was ist, jenseits der Bilder.

die schreibende
Sie bewegt sich ganz langsam. Wilma sagt, Langsamkeit durchbricht die Muster. Die Augen auflassen. Sanfter Blick. Wilma sagt, es ist eine Kunst, alle Information aus der Umwelt aufzunehmen, ohne etwas damit zu machen. Bleiben im Zustand zwischen sich abkapseln und sich im Außen zu verlieren. Sie sagt, sie kenne diesen Zustand. Wenn sie darin ist, ist sie glücklich. Langsamkeit hilft. Beyond. Und ich, statt im leeren Raum bin ich beyond. Ich bin im Raum davor. Ich kann überhaupt keine klaren Sätze mehr schreiben.

Jetzt geht es direkt schon wieder weiter. Ich muss überlegen, welcher Tag heute ist und wie lange ich schon hier bin. Mein Kalender auf meine Laptop sagt 04.08.. Zwei Tage erst, sind schon vergangen und der Einstiegsabend. Und schon bin ich ganz in den anderen Universen des Seins. Kein Internet zudem. Außer wenn ich mich vor das Haus in den Regen stelle. Vor das Nachbarhaus. Keine Gefahr mal eben schnell zu checken, was die Welt da draußen macht. Weil ich mich nicht sorgfältig gekümmert habe, auch keine Chance von meinem Mobile aus zu telefonieren oder meine Mailbox abzuhören. Also ganz eintauchen.

die schreibende
Sie wirft mir Wilmas Wörter weiter: nass ist alles intensiver. Sie lässt mich im Raum vor dem leeren Raum. Davor bleibt alles im Ungefähren. ANS. Autonomes Nervensystem. Die Schleimhäute nass machen. Nass ist alles intensiver, wirft sie mir zu.

Neuer Input. Schreibe eine Liste. Über was möchtest Du beyond gehen?
Auf meine Liste schreibe ich Wörter wie: Ground. Meaning Comfort. Me. You and Me. Words. Sense. Making Sense.

die schreibende
Sie hat sich frei gemacht. Sie geht ganz nah an die Anderen ran. Zu nah. Sie drückt beherzt ungehemmte Näheimpulse aus. Berührung. Blicke. Bewegung. Sie schert sich nicht um deren Beklommenheit und überwältigt sein. Das Befreiende kostet sie aus. Das kenne ich nicht von ihr. Ich weiß nicht so genau, was ich davon halten soll. Dann bleibt sie einfach da, ist still, lauscht der Nähe, die entsteht, lauscht und verbindet sich. Das kann sie gut. Das steht ihr gut. Das schneide ich mit. Ich sage es ihr nicht. Sie nennen das Score. Beyond Kontakt Konvention.  

Beyond me beginnt eine Freiheit. Beyond me ist ein großer Raum voller Möglichkeiten. Ich sitze mit der Schreibenden im Tanzraum. Ich schaue ihr über die Schulter. Ich lese.

die schreibende
Kommen und gehen. So ist das nun mal. Und dann ist wieder alles nass.

Sie greift sich etwas heraus von dem, was hier passiert. Nass werden, die Schleimhäute, das autonome Nervensystem, der Regen. Herausgelöst aus dem Kontext wird es mehrdeutig. Die Schreibende ist eine Künstlerin der Mehrdeutigkeit. Sie entzieht sich dem Narrativ. Das gefällt mir.

Dann legt die Schreibende das Buch zur Seite und legt sich auf den Boden. Sie liegt einfach da und ich schaue sie an. Ich lege mich neben sie. Ich kann spüren, wie sie Bewegungsimpulsen folgt, die aus ihrem Körper kommen. Ich nehme die Information auf und bewege mich dazu. Wir tanzen mit dem Zwischenraum zwischen uns.

Kommentar verfassen

Trage deine Daten unten ein oder klicke ein Icon um dich einzuloggen:

WordPress.com-Logo

Du kommentierst mit Deinem WordPress.com-Konto. Abmelden /  Ändern )

Twitter-Bild

Du kommentierst mit Deinem Twitter-Konto. Abmelden /  Ändern )

Facebook-Foto

Du kommentierst mit Deinem Facebook-Konto. Abmelden /  Ändern )

Verbinde mit %s