„Wir befinden uns im Krieg“, sagt der Freund zu mir, mit dem ich am Seerhein entlang spaziere, die Herbstsonne wärmt, wenn die Strahlen mein Gesicht streifen.
Schon wieder. Neulich erst, es ist vermutlich schon bald ein Jahr her, machte ein anderer Freund genau diese Bemerkung.
„Wir sind im Krieg“.
Wir wollten baden gehen, kramten die Handtücher aus den Rucksäcken, schauten skeptisch auf den See, der uns mit seinen 15 Grad nicht gerade einladend vorkam.
„Genau wegen dieser Freiheit sind wir am Kämpfen,“ erwiderte der Andere, „diese Freiheit wird dir jeden Moment stärker und willkürlich beschnitten“, dabei hatte er eine insistierende Stimme.
„Das hat einen Grund, der für mich nachvollziehbar ist, der meinem Schutz dient“, antwortete der Neue prompt. Wir anderen zogen uns unbeirrt aus, um ins Wasser zu gehen. Die Freundin, die den Neuen mitgebracht hatte, litt, ich erkannte ihr Unbehagen in ihrem sorgenvollen Blick.
„Ach, das wird dir doch nur erzählt“, sagte der Freund und der Neue holte schon Luft, als die Freundin energisch rief: „Aufhören, nicht streiten“.
Der Freund schaute sie irritiert an, „nein, ich will nicht streiten, ich will nur meine Meinung sagen“. Wir gingen baden.
Jetzt übernimmt niemand die Widerrede.
„In diesem Krieg habe ich die Rolle eines Guerilla Kämpfers, ich bin im unsichtbaren Widerstand“, sagt der Freund. Das sei ihm im Urlaub klar geworden, in vielen Gesprächen mit seiner Frau. Der Urlaub war übrigens wunderbar. Ah ja, denke ich, im Urlaub, während du das morgendliche Schwimmen im Meer an leeren Sandstränden genossen hast. Mir passt die Kriegsrhetorik nicht. Ich spüre, wie sich das Unbehagen in meinem Körper verteilt, als wäre es in einen Zug gestiegen und der würde nun über die Blutbahnen kreuz und quer durch mich hindurchbrausen.
Erstens will ich mich nicht im Krieg befinden. Vor meinem inneren Auge entstehen direkt Bilder von verwüsteten Städten, Aufnahmen von Bombeneinschlägen und schreienden Kindern. Krieg ist für mich schlicht und ergreifend der schlimmste vorstellbare Zustand. Eskalierende Gewalt, geschürter Hass und Feinseligkeit, ein Gefühl von ausgeliefert sein, das eigene Leben und das der Menschen die ich liebe ist im Krieg durch Waffengewalt bedroht. Die Nervensysteme sind zwangsläufig im Überlebensmodus von Kampf, Flucht und Erstarrung.
Zweitens finde ich die Kriegsrhetorik anmaßend. Was sollen die Menschen davon halten, die im Krieg leben?
„Ich mag dir in dieses Szenario nicht folgen, auch wenn ich zustimme, dass die Digitalisierung voranschreitet, Bargeld der Vergangenheit angehören wird und das die absolute Kontrolle möglich wird. Trotzdem glaube ich nicht an das kalkulierte globale Machtbestreben weniger Menschen“, sage ich.
„Das sagst du nur, weil du dich nicht verändern willst“, hält er dagegen. Ich will konkret werden, was denn die Schlussfolgerung daraus sei, welche Taten denn folgen in der Rolle des Guerillos. In diesem Stadium geht es nicht um Taten, sondern um die Rolle, belehrt mich der Freund, ich müsse mir zunächst über meine Rolle klar werden, ob ich das denn nicht begreife.
„Es bringt Dir nichts, wenn Du die Wirklichkeit negierst, wenn Du die Realität nicht betrachtest und Dir Deine Rolle nicht gibst, die es braucht!“, sagt er entschieden.
Ich lese einen Artikel einer Psychoanalytikerin im Internet. Es geht in diesem Artikel um die Mechanismen der Abwehr, vor allem der Abwehr von innerer Spannung, die entsteht, wenn Grundbedürfnisse nicht erfüllt werden oder nicht bewältigbar erscheinende innere Konflikte und unangenehme Gefühle überhand zu nehmen drohen. Dies gilt auch dann, wenn eine Realität als schockierend, verunsichernd, verwirrend, an die Veränderung des Status Quo appellierend wahrgenommen wird. Folglich könnte der Freund Recht haben, dass ich eine Wirklichkeit abwehre, die mich innerlich überfordert und mein Bedürfnis in einer heilen Welt zu leben zu Nichte macht. Und zu einem Teil hat er Recht. Ich wähle die ganze Zeit sehr konsequent aus, mit welchen Informationen aus den unendlichen Möglichkeiten ich mich konfrontiere und mit welchen nicht. Mein Ziel ist dabei nicht ausschließlich, in meiner heilen Welt zu bleiben, sondern die Dosierung so zu wählen, dass ich handlungsfähig bleibe. Sprich, Apathie, Resignation und Reaktivität versuche ich zu verhindern. Die Dosis macht das Gift.
Ist es nicht eine immense Herausforderung, dass die äußere Wirklichkeit sich nicht auf meine sinnlich erfahrbare und überprüfbare begrenzt, sondern das mein Bild der Wirklichkeit aus einer Fülle medial vermittelter Informationen besteht, die ich ständig auswähle, mit den Mitteln meines Verstands überprüfe und daraufhin als brauchbar und unbrauchbar für meine Schlussfolgerungen bewerte? Diese Leistung vollziehen wir täglich, weil die Wirklichkeit in Bild, Wort und Text, oft synchron zum Geschehen weitergeleitet werden kann. Diese Fülle erlebe ich als Vielfalt, als Schutz gegen einseitige Darstellung und als Überforderung.
Ich versuche mir auszumalen, wie es für meine Urgroßeltern war, die auf die mündlichen Überlieferungen angewiesen waren und keine Möglichkeit jenseits ihrer eigenen Lebenserfahrung hatten, Erzählungen über die Welt außerhalb ihres Erfahrungshorizonts zu hinterfragen. Es fällt mir tatsächlich schwer mich da hinein zu versetzen, aber in der Annäherung fühlt es sich eher nach Ohnmacht und den Mächtigen ausgeliefert sein an, die die Erzählung der Wirklichkeit bestimmen.
Wer bestimmt jetzt die Erzählung der Wirklichkeit? Wähle ich sie mir selbst, indem ich aus der Fülle der Informationen die auswähle, die mir gefallen? Wie kommt es, dass Impfbefürworter und Impfskeptiker in gänzlichen unterschiedlichen Wirklichkeiten leben und konträre Ängste haben?
Wie brauchbar als Entscheidungsgrundlage ist meine Meinung, die ich mir gebildet habe, ohne alle möglichen mir zur Verfügung stehenden Quellen zu nutzen, diese entsprechend ihres Fundaments zu gewichten? Ich unterstelle, dass fast alle Menschen auf Abkürzungen zur Meinungsbildung kommen, weil die Fülle der zur Verfügung stehenden Informationen viel zu groß ist.
Was fließt alles in meine Entscheidung, mich impfen zu lassen oder es gerade nicht zu tun mit ein? Ich finde das hochinteressant. Was braucht es, um Menschen davon zu überzeugen, dass es das Richtige ist?
Was braucht es, um Menschen dazu zu bewegen, etwas zu machen, obwohl sie glauben, dass es nicht das Richtige ist?
Ich bin fasziniert, wie die Menschen zur Zeit der Corona-Pandemie zu ihren Wirklichkeiten kommen, mich eingeschlossen. Welche Informationen sie auswählen und welche Schlüsse sie daraus ziehen und mit welcher Überzeugung sie sich berechtigt fühlen, ihre Wirklichkeit als die einzig naheliegende anzunehmen.
Meinen Spaziergänger verlasse ich innerlich aufgewühlt. Er hat uns noch rückwirkend unsere Rollen im dritten Reich zugeschrieben, wären wir Juden gewesen. Er hätte sich alle Fluchtwege organisiert und wäre zum richtigen Zeitpunkt geflohen, ich hätte es nicht wahrhaben wollen und wäre im Konzentrationslager umgekommen. Ich bin also der Mensch, der sich die abgrundtiefe Bösartigkeit des Menschen nicht vorstellen kann und deshalb sich nicht ausreichend vorbereitet auf das Kommende. Ja, räume ich freimütig ein, die schlechtesten Absichten zu unterstellen, dafür fehlt mir die Bereitschaft und die Phantasie und womöglich hätte ich zu den Ermordeten und nicht zu den Überlebenden gehört. Welche Rolle wir als Deutsche gehabt hätten, darüber haben wir nicht gesprochen. Ich sei keine Guerilla, hatte ich trotzig gesagt, dann aber eingelenkt, dass ich sehr wohl meine archaische Kriegerin aktivieren könne. Im Nachhinein kommt es mir vor, als wären wir Kinder und ich wollte weiter mitspielen. Ich wolle noch überlegen, sagte ich, welche Rolle ich einnehmen würde, ich würde ohnehin lieber selbst bestimmen.
Mir geht danach alles Mögliche durch den Kopf, über positive Ansteckung, über eine Erzählung des Achtsamkeitslehrers Thich Nhat Hanh, der davon berichtet, das ein achtsam ausgerichteter Mensch auf einem Boot voller Menschen, auf dem während eines Sturms Panik ausbricht, wie ein Leuchtturm der Ruhe sein kann, der so viel Orientierung schenkt, dass das ganz Boot dadurch gerettet wird.
Auch eine Heldinnen Geschichte. Natürlich will ich auch eine Heldin sein. Und wenn ich ganz ehrlich zu mir bin, hätte ich gern eine erhabene Heldin, die jenseits der Polaritäten von Gut und Böse, Richtig und Falsch angesiedelt ist. Eine, die sich nicht mehr im Kampf mit Blut beschmiert und sich die Hände schmutzig macht. Am liebsten wäre ich schon erleuchtet. Aber es hilft ja alles nichts.
Ich lese über die Herkunft des Wortes Krieg nach. Krieg bedeutet ursprünglich auch Anstrengung und Hartnäckigkeit, Wucht, Stärke, Kraft und Macht.
Daraufhin bahnt sich in mir die Lust, mich in das Schlamassel des Lebens zu werfen, mir die Hände schmutzig zu machen. Ich stimme mein Kriegsgeheul an, wie als Kind, als wir Indianer waren und unsere Hände gegen die Münder schlugen und dabei einen lauten langen Oh Laut ausstießen, den Hang hinunterrannten zu unseren Pferden, die dort in Form von unseren Fahrrädern auf uns warteten. Mein Fahrrad ist der silberne Blitz und der Fahrtwind bläst mir die Haare ins Gesicht. Ich fahre im Stehen und umklammere den Lenker mit beiden Händen fest. Leben, ich komme.
Das wünsche ich mir, dass ich mich nicht aufhalten lasse und mich immer wieder auf mich besinne. Ich weiß, wofür ich stehe und wie ich das Leben um mich herum bewässere, auf das es vielfältig wachse und gedeihe.
Jede tut, was sie vermag.
Ich schreibe.