die Schreibende und ich 4

cogito ergo sum

Ich sitze auf dem kleinen Balkon in der Morgensonne, mit einem Milchkaffee in der Hand, die Luft ist so erfrischt, als wäre ich in den Bergen, zudem sitze ich mitten im Vogelgezwitscher. Ja, denke ich, auch der Urlaub zu Hause bietet diese einzigartigen Momente. „Oh wie schön ist Panama“, denke ich und sehe die letzte Seite das Janosch Bilderbuches vor mir, als der kleine Tiger und der Bär endlich in Panama ankommen und ihr eigenes eingewachsenes Zuhause erkennen. Während ich mich in dieses morgensonnige Nichtstun hinein entspanne, beobachte ich die weiten Reisen meines Hirns, das fröhlich vor sich hinplappert.

ich denke, also bin ich

Darüber könnte ich doch mal in einem Blog philosophieren. Über meine neue These, wieso wir oft mehr in den Parallelwelten unserer Köpfe leben. Und sofort hält mir mein Kopf einen kleinen Vortrag, den ich zu Papier bringen soll:

Wir kommen als Spezies Mensch hilfloser und abhängiger als alle anderen Säuger zur Welt. Es dauert ein Jahr, bis wir uns überhaupt allein fortbewegen können und noch mehr Jahre, bis wir allein diese komplexe Welt begreifen und uns in ihr zurechtfinden. Keine andere Spezies kann ihrem Nachwuchs eine derartig lange Zeit der Brutpflege zugestehen. Zudem sind wir weniger ausdauernd, weniger schnell, weniger instinktiv, kurzum im Überlebenskampf wären die Zweibeiner der Gattung Mensch unterlegen, hätten sie nicht angefangen, zu denken und sich über neue Problemlösungen ihren Überlebensvorteil gesichert, Werkzeuge, Feuer, Waffen, Nahrungsmittelanbau, etc.

Aber diese überproportionale Entwicklung unseres Gehirns hat uns ja zudem die Fähigkeiten zu assoziieren, zu dissoziieren, zu imaginieren, zu visionieren, zu phantasieren geschenkt. (Mich interessiert halt immer mehr die psychologische Ebene des Überlebens, die wiederum maßgeblich mit allem anderen Zusammenhängt, weil sie ja die Grundlage für Entscheidungen ist und auch auf das Immunsystem einwirkt.) Und diese Fähigkeiten sind überlebensnotwendig. Zum Beispiel zu dissoziieren, bestimmte Erregungsbahnen auszusetzen in überflutenden Situationen, sprich, mich vom sinnlichen Erleben des Hier und Jetzt zu entfernen, ist eine Fähigkeit des Gehirns, die unser Überleben sichert. Und je nachdem mit welcher Grundausstattung wir in welche Welt hineingeboren werden, vernachlässigt, überprotektiert, missbraucht, baut das Gehirn bestimmte Überlebensstrategien stärker aus. Als Säuglinge und Kleinkinder haben wir keine Wahl. Auch die Fähigkeit zu imaginieren und zu phantasieren sichert Überleben in prekären Lebenssituationen. Ich selbst versorge mich mit den Bildern, die wiederum die Hormone ausschütten, die mich wieder handlungsfähig werden lassen und aus Resignation und Erstarrung herausführen. Also unser Gehirn ist schlicht ein neuroplastisches Wunderwerk.

Jep, denke ich, vielen Dank lieber Kopf, ich schätze deine Fähigkeit zum permanenten Durchdringen und Hinterfragen, aber ich genieße gerade einfach die Sonnenstrahlen und die Frische des Morgens und meinen Milchkaffee. Ich weiß, Du hast gerade erst angefangen und bist erst am Anfang deiner Ausführungen, ich habe trotzdem keine Lust dir weiter zuzuhören.

die Schreibende: Sag mal, hast du mal einen Moment Zeit, ich weiß nicht, ob meine Charaktere in der Kurzgeschichte einfach nur Er und Sie bleiben, oder ob sie Namen bekommen sollen? Immer diese vielen Entscheidungen.

Ich: Ich entspanne mich gerade und mein Kopf denkt vor sich hin.

die Schreibende: Schön für dich, aber kannst du mir mal sagen, was du machen würdest. Von meinen drei ErstleserInnen habe ich unterschiedliche Rückmeldungen bekommen. Einer hat geschrieben „Ich würde den Protagonisten die Namen nicht geben, weil so eine interessierte Distanz bleibt. Ich glaube mit Namen würde ich mich mehr identifizieren und dann vielleicht weniger folgen.“, ein Anderer „ja, namen könnten noch eine zusätzliche wirkung haben oder erklärung sein“ und eine dritte hat geantwortet: „Ich würde es ohne Namen lassen, war mir nicht unangenehm beim Lesen“.

Ich: Soll ich jetzt die Geschichte auch noch lesen und meinen Kommentar dazu abgeben, vielleicht steht es dann zwei zu zwei, dann wird es auch nicht leichter. Vielleicht solltest du überhaupt nicht so viele Menschen befragen?

die Schreibende: Mmmh, aber so bekomme ich etwas ein Gefühl, was bei den Lesenden passiert. Ich habe jetzt zwei Versionen geschrieben, ich könnte dir die beiden Versionen vorlesen und dann selbst entscheiden, welche ich die Bessere finde, ohne dass du überhaupt etwas dazu sagst.

Ich: Muss ich dann überhaupt zuhören?

die Schreibende: Ja, musst du, dann klingt es anders, wenn ich lese.
Roll nicht mit den Augen. Es ist wirklich so.
Das kannst du gern mal ausprobieren. Wenn du zuhörst, finde ich die richtige Antwort, einfach nur, weil du ein Resonanzraum für mich bist, der mich selbst woanders hinführt.

Ich: Etwas abgedreht, aber ich stelle mich nachher für dein Experiment gern zur Verfügung, im Gegenzug musst du dir noch meine morgensonnigen Gedanken anhören.

die Schreibende: Nur zu.

Ich: „Ich sitze auf dem kleinen Balkon in der Morgensonne…“

Ich schaue die Schreibende erwartungsvoll an. Die Schreibende schaut mit erwartungsvoll an. Wir schweigen beide.

Ich: Warum sagst du nichts?

die Schreibende: Die Antwort liegt in dir.

Ich: Sehr salbungsvoll.

die Schreibende: Hey, das war gar nicht ironisch gemeint, vielleicht etwas pathetisch ausgedrückt, aber du hast mich doch darauf gebracht, nicht mehr so viele Menschen zu befragen.

Ich: Schon okay, aber ich habe ja gar nicht so eine konkrete Entscheidungsfrage wie du, ich wollte einfach nur Wissen, wie du findest, über was ich philosophiere.

die Schreibende: Du hast es ja schon selbst kommentiert. Dein Kopf ist noch am Anfang, ist also noch etwas unausgereift oder sehr kurz zusammengefasst, was er von sich gibt und du bist unentschieden, ob du wirklich etwas von deinem fundierten Wissen und deinen Gedanken teilen willst, oder ob du besser gemütlich in der Sonne sitzt. Unentschieden, hast du gehört.

Ich bin bedient, aber die Schreibende hat den Nagel auf den Kopf getroffen.

die Schreibende: Und ich finde, falls du dich dazu entscheidest, wirklich Wissen zu vermitteln, du könntest es etwas weniger abgehoben tun. Ich muss mich wahnsinnig konzentrieren zu folgen. Im Übrigen habe ich es lieber, wenn du gemütlich in der Sonne sitzt, während ich dir meine Geschichten vorlese.

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