writing down the bones

So heißt der Titel eines Buches von Natalie Goldberg, dass ich 1996 am Naropa Institute in Boulder kaufte, als ich eine Freundin besuchte, die dort studierte. Der Untertitel heißt Freeing the writer within. Ich habe das Buch nie ganz gelesen, aber manche Bücher entfalten ihre Wirkung, ohne dass ich sie komplett lese.

Ich suche nach einer für mich stimmigen Übersetzung: Die Knochen abschreiben, aufschreiben, hinab schreiben, das Knochige, das Innere, das was ich anfassen kann, was mir Halt gibt, einen Knochen mitkochen, dass die Säfte aus dem Mark in die Suppe strömen. Der Buchtitel ist mir ein unbewusstes Mantra geworden und er ist mir eingefallen, als ich daran dachte, von der Schreibwoche in Waldstatt zu erzählen.

Die Schreibwoche war dieses Jahr eine schwere Geburt. Corona geschuldet waren Ivo Knill und ich als Veranstalter, die wir ersehnt in diese Woche im April im Schloss Vellexon mit 14 freudig Forschenden starten wollten, mit all den unbeantworteten Fragen konfrontiert: Werden wir eine Veranstaltung mit einer Gruppe durchführen können? Mit wie vielen Personen? Werden wir nach Frankreich reisen können? In guter Gesellschaft zu sein mit diesen Fragen und etwas im Training half bedingt. Hin und her und hoch und runter haben wir die Fragen bewegt. Sahen uns als Abenteurer unter dem Radar fliegen, dann wieder Sorge tragen für gefährdete Angehörige, sahen uns andere Orte auftun, digitale Formate, dann unseren Rückzug in ein Schreiben, wo wir einander selbst genügen. Am Ende haben wir unser Schreibschloss schweren Herzens hergegeben und die allermeisten unserer Mitschreibenden ihrem eigenen Glück überlassen. (Mehr über die vergangenen Wochen im Schreibschloss unter: die Schreibende/ sie lebt/ im Schreibschloss) Aber nicht alle.

Nach reiflicher Überlegung und haben wir ein Format gefunden, wie wir dieses Jahr zum Schreiben und Bewegen und Kochen und Essen zusammenkommen können. Das Schloss Vellexon haben wir absagen müssen – als Ersatz laden wir euch nach Waldstatt, ins Otto Bruderer Haus an der  Mittelstrasse 12 ein.

Wir empfangen Euch am Sonntagabend 11.4 und 18.00 Uhr mit einem Essen und verbringen gerne mit Euch die Tage bis zum Donnerstagabend 15.4 im Haus. Wir werden eine sehr einfach Tagesstruktur vorschlagen, so dass viel Raum zum Schreiben, Spazieren, Kochen und Essen und Austauschen besteht. Wenn möglich verbringen wir einen Tag im Tanzraum.  

Das Otto Bruderer Haus ist ein altes Appenzellerhaus mit vielen kleinen Zimmern und Ausblick auf den Säntis. Seinen Namen hat es vom Künstler Otto Bruderer, der darin gewirkt und einen grossen Schatz an Bildern, Sprüchen und Werkzeugen hinterlassen hat. Das Haus gehört Ivos Familie. Er hat es in den letzten zwei Jahren so aufgefrischt, dass es nun auch für Gäste offen stehen kann, die sich vom Haus inspirieren lassen. Wir sind die erste Gruppe, die hier ein Seminar veranstaltet.

Die Räume sind sehr einfach eingerichtet (die Stehhöhe liegt bei ca 1.8 m!). Bringt gerne Bettwäsche oder Schlafsäcke mit – und natürlich alles, was ihr zum Schreiben, Tanzen, Wandern und Gestalten braucht! Wir verteilen uns auf 5 Schlafzimmer und haben die grosse Stube und einige Nebenräume zur Verfügung, so dass wir Platz für Rückzug und Geselligkeit, Schreiben und Sein haben werden.

Wir sind zu sechst in der Dauerbesetzung – vielleicht ergeben sich noch Einzelauftritte von weiteren Schreibenden – das wird sich kurzfristig zeigen.

Die Besetzung hat sich aus der räumlichen Nähe, quasi der Corona Kompatibilität ergeben. Diese um einen Kern variierende Gruppe, die sich in den Wochenendformaten namens Schreibdorf und den Wochenformaten im Schreibschloss seit sieben Jahren trifft, bringt Erfahrung im Bereich Bewegung, Improvisation, Kontaktimprovisation und Gestaltung mit.

Für uns ist es jedes Mal ein neues Wagnis, den leeren Raum zu betreten, indem wir vor Ort entscheiden, wie wir Rahmen und Impulse setzen, Prozesse anstoßen, wie wir schreiben und bewegen gewichten. Dabei spielen der Ort, die Gruppengröße, unsere eigenen Anliegen und die der Anderen die entscheidende Rolle. Wir sind ja nur die Dorfältesten, die Initiatoren, die Ermöglicher. Es ist ein kollektives Laboratorium, dass wir schaffen, ein Workshop einzig in dem Sinne, an dem zu arbeiten, was uns gerade bewegt und am Herzen liegt.
Das Otto-Bruderer Haus, die Gruppe, wir selbst. Unser Format war schnell geboren. Ein gemeinsames Einschreiben am Morgen in Form einer écriture automatique, 7-12 gefühlte Minuten, einen bis viele Sätze daraus teilen, je nach Gusto und dann verzieht sich jede in ihr eigenes Schreibatelier, eingerichtet im Haus. Der leere Raum. Der volle Raum. Die ganze Zeit. Bis zur Teestunde um 17 Uhr. Dann werden die Texte gelesen, gerade wie sie sind. Sie ereignen sich. Sie erfahren, was sie auslösen, an Gefühlen, Diskussionen, Resonanzen. Sie klingen in uns Zuhörenden und wir teilen, was wir erleben. Die Texte werden gewürdigt und gefeiert. So das Format. Ivo und ich schreiben mit.

es ist der 12. April und es schneit unablässig ich sehe die Schneeflocken als wäre es Winter vor meinem Blick tanzen bis es flirrt der Säntis ist verschwunden da ist ein weißer Nebel, der meinen Blick in die Leere laufen lässt, als gäbe es Nichts als die weiße Leere ich höre den Briefkastenschlitz wieder zuklappen in der Küche von Fräulein Jäger ist das alte Steinwaschbecken zur Seite geneigt ich sitze in der Küche von Fräulein Jäger ich sitze in einer fremden Küche.

Die Seife hat die Farbe grün. Die Spuren von Schaum kleben noch vom Hände waschen an der Seife. Das zur Seite geneigte steinerne Waschbecken ist mir vertraut geworden. In der Küche von Fräulein Jäger habe ich mich beheimatet.

Mir wird warm. Ich taue auf.
Das ist die ganze Wahrheit über mich.

Meine Texte heißen sammeln, beten, suchen, lieben. Wir lesen vor. Mein Herz klopft. Immer wieder und immer neu und immer noch. Bis zum Hals mitunter. Ich will ein paar Ausschnitte hier teilen:

beten

…Die Säntiskette vom Schäffler aus tritt für Momente in Erscheinung. Eine feine gezackte Linie, ein Felsrelief, mitten im Himmel. Und Gott sah, dass es gut war.
…  Bei meiner Oma in der Dorfkirche müssen wir Kinder immer auf der rechten Seite sitzen, in der dritten Reihe. So gehört sich das. Vor uns ist ein Gemälde mit dem heiligen Christopherus, der Jesus auf seiner Schulter trägt. Sein Oberkörper ist ganz stark, aber sein unteres Bein ist irgendwie verdreht. Vielleicht durch die Wassermassen, die da wüten. Nach der Messe müssen wir Kinder im Gang stehen, wenn schon alle Erwachsenen aus der Kirche gegangen sind. Dann kommt der Pfarrer und gibt Einzelnen noch etwas zum Austeilen mit. Einmal hat er mich gefragt: „Und zu wem gehörst denn Du?“  Das hat mich erschreckt und ich wusste gar nicht, was ich jetzt antworten soll. Es gibt nämlich immer eine Antwort, die die richtige ist. Nach Christus erbarme Dich muss man Herr erbarme Dich sagen. Oder anders herum. Nach Erhebet Eure Herzen, muss man sagen wir haben sie beim Herrn. Gehe nicht ein unter meinem Dach, aber sprich nur ein Wort, dann wir meine Seele gesund, muss man auch irgendwann sagen. Aber zu wem ich gehöre? Ich sage nichts. Wer meine Eltern sind? Na, das kann er doch gleich fragen. Hier im Dorf war meine Mama die Emmi Bernard. Also sage ich, die Emmi Bernard. Ich gehöre zur Emmi Bernard. Vielleicht war das die richtige Antwort, auf jeden Fall nickt der Pfarrer und schwingt seine Kelle, aus der geweihtes Wasser auf uns regnet. Gehet hin in Frieden.

lieben

F und C bleiben Buchstaben. Sie bekommen keine Hände, die mich anfassen, keine Augen, in denen die Farben ineinanderfließen, keine Körper die in meiner Herzkammer ihre Räume gefunden haben, die sie bewohnen. Und weil ich es schreibe, trotz kein und nicht, weiß ich ja, dass sie eine Haut haben, auf der die Äderchen geplatzt sind, dass sie mit Händen und Augen und körperlich in mir wohnen, nacheinander eingezogen sind. In der Herzkammer gluckert die Heizung. Ich blättere zurück und lese lauter Fragen. Der Maulwurf hat fleißig gegraben, die Fragen aufgetürmt zu Hügeln auf der Wiese.

Auch die anderen schreiben und teilen. Es fließen der Säntis, das abgetretene Linoleum im Atelier mit den Farbklecksen Otto Bruderers, die erzählten und nicht erzählten Geschichten des Hausgewebes in unser Schreiben. Und nicht nur das. Es stoßen die gelesenen Texte neue Bewegungen bei mir an, es fließen die Anderen in mein Schreiben. Ich werde Teil eines Kollektivs, das mich beeinflusst und auf das ich Einfluss nehme. Hier wird es für mich erfahrbar, als eine Verbindung, die mich trägt. Hier in diesen vier Wänden, die uns beherbergen, wird die räumliche Nähe lesbar. Auch zeitliche Verbindungen, die über uns hinausweisen nehmen Gestalt an.

Jutta zum Beispiel befühlt ein scheinbar unlösbares Erbproblem, von allen Seiten. Erbengemeinschaft. Interessenkonflikte. Giro- und Depotkonto. Am letzten Tag im Nachsatz, das Unerwartete. Übrigens. Das geerbte Haus wurde in Aktenzeichen XY-ungelöst ausgestrahlt. Die Tante, die die Miete eingesammelt hat. Erwürgt. Oder Eva findet im Bödeli ihre Herzkammer, verbindet sich in ihrer hinreißenden Beobachtungsgabe mit den unzähligen Schätzen im Haus, die auf der Toilette ihren Anfang nehmen, wandert über die Begegnung mit dem Geldautomat bis zu den Geschichten in ihr, die sich nach vorne gedrängelt haben. Sich hinschreiben, wo es verstörend wird. Ungerecht verteilte Gaben zwischen den Geschwistern, Lieben, das sich mit Zweifeln paart.  Dann gibt es noch die Meisterin des scheinbar absichtslosen Umherirrens, des drängenden mit dem Stift unterwegs Bleibens, um nicht anzuhalten, um nicht zu fallen in die Abgründe und dabei ergründen, wie das Leben hinter der Schwelle des Eilens sie ereilt. Es ist Katja, die Künstlerin des Schriftbildes. Oder Barbara, die ihre Ahnen auferstehen lässt, mit der ich in ihrer biographischen Landschaft stehe, die mich tiefenscharf hineingezogen hat. Und der einzige Mann in der Runde. Er hat sich Verstärkung geholt. Don Agostino und Ivo, Ivo und Don Agostino, der Bruder des Großvaters mütterlicherseits. Der hinterlässt Memoiren im Stadtarchiv von St Gallen, viele klein beschriebene Seiten auf Italienisch. Ivo war schon einige Wochen dabei, dieses Leben zu durchdringen und bis zu mir strahlt der wohlverdiente Glanz des Don Agostino, in dessen Lichtkegel sich Ivo getrost stellen kann mit seinem vielseitigen Wirken. Dort fühlt er sich aufgehoben. Endlich.

Diesmal sind wir da, wo ich spüre, wie wenig es braucht, um die Knochen zu packen. Um den Zauber zu erfahren, wenn aus dem Innersten aufgestiegene Texte sich ereignen, zu erleben, wie sich Menschen und Räume verändern, entwickeln, über sich hinauswachsen. Vielleicht ist es richtiger zu sagen, wie viel Mut, Gelassenheit und Freiheit es braucht, um sich die Zähne auszubeißen und das nährende Mark laut schlürfend aufzusaugen.

Und da beginne ich, Ivo zu glauben. Es stimmt, dass wir jahrzehntelange Erfahrungen in diesen und anderen Settings gesammelt haben und viel in das Wenige hineingeben. Und Eva, die sagt, unterschätzt nicht, was ihr verkörpert. Als Tanzende und Schreibende.

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