Die Reisende 5

Es werden immer weniger Blätter, die an der Linde vor meinem Fenster in leuchtemden Gelb zittern, weil ein sanfter Wind durch die Straße weht. Es ist nass und der Hochnebel tilgt die Farben aus dem Himmel. Genau die richtige Stimmung, um mich wieder der Reisenden zuzuwenden.

Diese Episode beginnt lesend. Es ist Anfang des Jahres. Ich überlasse mich dem Sog des Buches SALZPFAD von Raynor Winn:

„Von Clodgy Point aus erstreckte sich das grün schimmernde Licht Richtung Osten, aber im Westen türmten sich bereits Quellwolken mit der typisch weißen Oberseite, und der auffrischende Wind blies einzelne Wolkenfetzen in unsere Richtung. Der Coast Path führte in eine aus unzähligen Landzungen bestehende Wildnis: Hor Point, Pen Enys Point, Carn Nuan Point und viele weitere, die noch außerhalb unseres Blickfeldes lagen. Nur die Landspitzen und der Atlantik, eine schroffe, urtümliche, fast bedrohliche Landschaft. Eine Landzunge nach der anderen. Während wir weiterwanderten, wurde der Himmel im Westen dunkler, stürzten abbröckelnde Steine ins Meer, begann sich weißer Schaum auf dem Wasser zu bilden, das ebenso undurchsichtig wirkte wie die tief hängende Wolkenmasse. Ein geheimnisvolles Land aus Felsen, geformt von Wind und Wetter, isoliert und weltabgeschieden. Seit Jahrmillionen unverändert und doch den ständigen Veränderungen durch Meer und Witterung ausgesetzt, ein Widerspruch in sich am westlichen Rand der britischen Hauptinsel. Unbeeindruckt von Zeit und Menschenhand zehrte dieses alte Land an unseren Kräften und unserem Willen und zwang uns dazu, uns den Elementen, die es formten, zu beugen.“

Raynor Wynn Der Salzpfad

Vielleicht beginnt die Geschichte in dem Moment, als ich im Buchladen zu diesem Buch greife. Was hat mich angesprochen? Nach was habe ich Ausschau gehalten? „Eine wahre Geschichte über den Triumph der Hoffnung über die Verzweiflung und den Sieg der Liebe über alles andere“, steht fettgedruckt auf dem Buchrücken. Vielleicht war es die Jugendliche in mir, die die wahre abgeschlossene Geschichte in der Fernsehzeitung liebt, die ihre Hand nach dem Buch ausstreckte und die ebenso fühlt, wie es ist, „Kraft aus der Natur zu schöpfen“.  

Es ist ein Buch über unbarmherzige Schachzüge des Lebens. Ein Paar, das die jahrzehntelang liebevoll aufgebaute Farm verliert, der Mann, den eine Krankheit im Griff hat. Als es nichts mehr zu verlieren gibt, am Tiefpunkt, macht es sich mit einer dürftigen Ausrüstung und ein paar Pfund in der Tasche auf den Weg, den ganzen South West Coast Path entlang zu wandern. Wie immer wenn ich lese: ich lebe mit, ich leide mit, ich liebe mit.

Wieso also nicht Cornwall, eine Küste entlang wandern, meine Sehnsucht nach Meer und Felsen, Himmel und Weite, Transformation, nach einfach, nach Schritt für Schritt stillen?

Cornwall also. Wandern also. Tageweise und in zwei Tagen von St. Ives nach St Just. Ich rufe in der Herberge in St Just an. Ob wir unser Gepäck da lassen können. Und wo wir übernachten können auf dem Weg von St Ives zurück nach St Just. Das Englisch der anderen Stimme am Telefon verstehe ich schlecht. Aber unser Gepäck können wir deponieren, verstehe ich und manche wandern die Strecke in einem Tag, aber ja, das sei schon heftig. Ich will keine quälende Grenzerfahrung, also wo wir übernachten können, frage ich wieder. Ja, das sei schwierig, verstehe ich. Da gäbe es kaum etwas. Ich solle Gurnard‘s Head eingeben. Dass sei ungefähr in der Mitte. Wie bitte? Wo bitte? Ich lasse es mir buchstabieren. Und accomodation soll ich eingeben. Der naheliegende Gedanke taucht auf, auf die ganze Reise unser Zelt mitzunehmen. Der Sohn bringt sein Unbehagen zum Ausdruck.
„Also was denn jetzt? Kultur oder Outdoor Adventure. Das ist ja eine komplett andere Art zu packen.“ Nein, Zelt überfordert mich. Komplett Outdoor ist zu viel Abenteuer gleichzeitig. Ich gebe Accomodation gurnard’s head ein. Ein einziges Bed and Breakfast taucht auf. Und ein Nobelrestaurant mit Zimmern. Davon hat die Stimme, die ich so schlecht verstanden habe, gesprochen. Etwas sehr Teures gebe es da nur. Ich schreibe beide Möglichkeiten an. Die Frau von dem Bed and Breakfast auf der Farm meldet sich zuerst.  

Als wir nach unserer Wanderung naßgeschwitzt ankommen, empfängt uns eine hagere braun gebrannte Frau in Jeans, die schlohweißen kräftigen langen Haare zu einem Zopf zusammen gebunden.

„Ihr seid zu früh, ab 16 Uhr ist Ankunft.“ Kurze Pause. „Aber ich bin ja da, hätte halt sein können, dass nicht“.

„Ach, ich dachte, wir werden unsere Rucksäcke los und erkunden dann nochmal den Gurnards Head“, antworte ich, „und ich brauche eine Pause. Zum Glück habe ich die jungen starken Menschen bei mir, die die Rucksäcke tragen“, setze ich fort. Ich erinnere mich an unsere erste Hüttentour, als mein Rucksack bis zum Rand gefüllt ist und ich mit den beiden mit ihren Kinderrucksäcken von der Schweiz nach Italien wandere. Ausgleichende Gerechtigkeit.

„Ich bin alt und stark“, sagt die Gastgeberin lachend.
Danke, denke ich, glaube ich sofort, nur ich fühle mich gerade nicht so.

Sie zieht uns vor eine Karte, die in ihrem Flur hängt.
„Die müsst ihr abfotografieren, da könnt ihr euch immer orientieren. Ihr könnt hier wieder zurück, wo ihr gekommen seid, dann lauft ihr bis zum Gurnards Head und entweder hier durch die Felder zurück. Das ist eine kleine Runde. Oder ihr lauft noch bis nach Porthmeor Cove, dass ist wunderschön, eigentlich müsst ihr da noch hinlaufen, dann wieder landeinwärts bis zu einem Sträßchen und über die Felder zurück. Das ist eine etwas größere Runde. Morgen könnt ihr überlegen, ob ihr die erste Landzunge weglasst, dann spart ihr etwa eine Stunde Strecke.
Wann wollt ihr frühstücken? Von mir aus gern früh, ich bin früh wach.“

Also die werden wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, denke ich. Wir schauen uns an, einigen uns auf halb 8 Uhr. Ich mag sie trotzdem. Es ist auch mal schön, von einer Frau an die Hand genommen zu werden.
Wir bahnen uns den Weg durch den Flur, in dem sich allerhand Schätze sammeln. Der Anteil von Gerümpel und Raritäten ist nicht genau auszumachen. Mit Tüchern abgedeckte Quader und Berge wahren einen einladenden Eindruck. Der Boden und die Treppen sind mit einem blumigen Teppich ausgelegt.

Nachdem ich eine Zeit auf dem Bett in den Tiefschlaf gesunken bin, machen wir uns wieder auf den Weg. Die große Runde. Ich kann mich immer noch nicht satt sehen: Die an die Klippen heranrollende Brandung, die Farben des Meeres. In manchen Buchten türkis schimmernd wie auf karibischen Werbeplakaten, dann wieder tiefblau zu der schäumenden Gischt einen Kontrast bildend, wie ich sie auf Turners Gemälden erblickt habe. Die zurückrollenden Wellen lassen braune Felsbänke zurück und ich stelle mir vor, wie sich die Seehunde darauf sonnen. Der blühende Ginster duftet nach Kokos und ich kann ihn so im Kontrast zum Meer fotografieren, dass er noch gelber leuchtet als ohnehin. Jede neue Landzunge entblättert eine eigene Schönheit vor meinem Auge, tief eingeschnittene Buchten, die der Pfad abschreitet. Es ist noch ergreifender, als ich es mir vorgestellt habe.

Am nächsten Morgen spricht unsere Gastgeberin etwas mehr. „Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie manche Menschen hier ankommen. Sie sind völlig fertig, weil sie diese Art nicht gewohnt sind, dieser Step breaking walk, wo jeder Schritt ein Ausgleich mit dem ganzen Körper braucht, weil es keinen Moment einen ebenen Weg gibt. Selbst erfahrene Alpenwanderer haben da ihre Mühe. Andere rasen durch die Landschaft, ohne irgendetwas wahrzunehmen und wollen nur Strecke machen. Da gebt ihr ein richtig gutes Bild ab.“

Na, da sind wir wohl in ihrem Ansehen gestiegen, weil wir noch die große Runde drangehängt und sie in Ruhe gelassen haben. Und es scheint mir genau das, was ich genieße, den Step breaking walk, wenn laufen tanzen wird, wenn ich mich durch die Landschaft bewege mit allen Felsen, Steinen und Büschen.
Wir begegnen wenigen Menschen. Ein älterer Herr, mit einer gelben Krawatte kreuzt den Weg. Er sagt etwas zu mir im Vorbeigehen, was ich nicht gleich verstehe. Ich frage nach.

„Ist das nicht ein wundervoller Tag?“

„Ja, wirklich. Der ideale Tag, um sich dieser Landschaft zu überlassen, die noch viel atemberaubender ist, als ich es erhofft habe.“

„Ich wohne jetzt im Altenheim in Truro, aber ich bin an der Küste aufgewachsen, und wann immer es mir möglich ist, komme ich hierher“. Ich höre eine ganz große Liebesgeschichte heraus, die in seiner Stimme vibriert. Das Land, die Liebe seines Lebens?

Bevor wir vertiefter ins Gespräch eintauchen können, fordert er mich auf, „eilen Sie doch Ihrer Reisegruppe nach, es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe“.

„Ach, meine Kinder warten früher oder später auf mich“, beruhige ich ihn, „es war mir eine Freude“.

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