Die Reisende 3

die Schreibende: „Sag mal, was ist denn in dich gefahren, dass du heute schon wieder an unserem Blog über die Reisende arbeiten willst?“

ich: „Ich bin halt im Flow, Schreibflow, Lebensflow, Reiseflow, dranbleiben, nachholen, aufholen, einholen“.

die Schreibende: „Du bist halt im Flow – was soll das denn jetzt heißen, fließ mich weg, oder was?“

ich: „Also noch einmal gesammelt. Erstens will ich mich tatsächlich an unsere Verabredung halten, einmal in der Woche eine Episode für andere Menschen lesbar zu machen. Zweitens ist K. gerade mit ihrer Tochter in London und das motiviert mich auch, mich auf diese Weise mit dem Abenteuer London mit jugendlichen Kindern zu verbinden, drittens hat mich mein Wochenende mit anderen Schreibenden im Schreibdorf tatsächlich wieder anders auf meine Lust am Schreiben fokussiert.“

die Schreibende: „Ist ja schon gut, ich bin dabei. Also die Reisetruppe wollten wir vorstellen.“

ich: „Genau. Es gibt einen hochgewachsenen knapp zwei Meter großen 17-jährigen, mit wuscheligen dunklen Haaren, einer Brille, einem charmanten Lächeln, der mit ausgelatschten Vans darum läuft und meistens die Airpods in den Ohren stecken hat und zudem mit einem verträumten Blick gesegnet ist. In der Reisegruppe ist er der Sohn. Hast Du noch etwas zu ergänzen?“.

die Schreibende: „Er hat braune Augen und fällt in der Rolle des stillen Beobachters eher angenehm auf, macht sich seine eigenen Gedanken, die er hin und wieder äußert und wird von vielen als attraktiv wahrgenommen. Ansonsten macht er alles am liebsten in letzter Minute, auch packen und planen.“

ich: „Dann gibt es die zwei Jahre jüngere Schwester und Tochter in der Gruppe, die auch Vans trägt, sich eher an den Bruder als an die Mutter wendet, die dunkelblonde glatte Haare und graugrünblaue Augen hat, eher sportlich daher kommt, dabei aber sehr auf ihren eigenen Kleidungsstil achtet.“

die Schreibende: „Alles in allem würde ich sie als gesprächsfreudig und aufmerksam ansehen, also schon auch noch ein gegenüber für die Mutter, für dich, die du eben die Mutter in dieser Reisegruppe bist. Einfach nur die Mutter. Die anderen sind ja auch noch Bruder und Schwester, du halt leider nur die Mutter.“

ich: „So ein Quatsch. Ich bin ja mit dir unterwegs. Wir sind schon mal zwei. Die Reisende und die Schreibende – und ja, ich bin halt auch die Mutter“.

die Schreibende: „Nein, ich finde, du bist nicht auch die Mutter, sondern dieser Umstand macht die ganze Reise zu dieser Reise, dein ganzes Reiseführergeplänkel und so. Ich finde, wir könnten das in unseren Episoden schon noch mehr einarbeiten.“

ich: „Familiendynamik, Reisen mit Jugendlichen und so? Davor habe ich mich wohlweislich gedrückt. Ich will jetzt nicht mehr nochmal alles umschreiben.“

die Schreibende: „Ach komm, das macht es doch eigentlich interessant, oder? Wer bricht wann unter welchen Umständen zusammen oder bekommt sonstige Krisen?“

ich: „Hör mal, das Ganze hat auch noch die Überschrift Urlaub, nicht Überlebenstraining. Ich glaube, da hast du was verwechselt.“

die Schreibende: „Nein, ich bin komplett im Bilde, aber Reisen mit dir haben im Allgemeinen wenig gemein mit dem, was ich unter Urlaub verstehe. Ich dachte, da wären wir uns einig.“

ich: „Schon gut, schon gut. Ich fand es halt passend, den Fokus auf das Reisen und die Begegnungen im Außen zu legen, aber wir können ja schauen, wo es sich anbietet, den Charakteren in der Gruppe ihren Auftritt zu lassen, oder wo und wie diese Gruppe Entscheidungen gefunden hat. Das ist aber echt nochmal eine ganz andere Nummer“. Ich seufze. „Jetzt will ich erst mal über unsere Begegnung mit dem Poeten erzählen“:

Wir laufen am Themse über entlang, auf der Seite des London Eye und der Tate Modern. Der Himmel ist bewölkt, es könnte bald anfangen zu regnen. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Mann hinter einer Schreibmaschine sitzen, die auf einem Klapptisch steht. Auf einem gemalten Schild davor steht POET TO HIRE, give what you like. Ich ziehe die Tochter am Ärmel. „Wartet“, und deute auf den Mann am Wegrand. No risk no fun, eine kurze Überwindung, der Sohn ist auch stehengeblieben, ich gehe auf den Mann zu. „What a great idea, we’d love you write a poem for us“

„Über was soll ich etwas dichten? Ihr sagt mir, was für ein Gedicht ihr wollt“.

Sofort denke ich daran, wie meine Tochter mich aufforderte. „Mama, drei Wörter, nein fünf Wörter“, wenn ich dabei war, abends ihr Zimmer zu verlassen. „Dann kann ich mir eine Geschichte erzählen, ich kann sowieso nicht einschlafen“.

Ich schaue meine Tochter an, meine Tochter schaut mich an, mein Sohn steht etwas abseits. Ich schaue in den Himmel. Clouds, sage ich. Ich schaue meine Tochter an. Zeit gewinnen über small talk. Where do you come from, how long are you visiting and so on.  

Der Dichter wohnt in einem Stadtteil im Osten. „Da wollt ihr nicht hin“, sagte er und deutet heftige Lebensumstände an.  Aber immerhin habe sein Stadtteil zwei Wolkenforscher hervorgebracht. Er war noch nie in Deutschland. Das wäre mal was, der Süden, der See, kurz hinter der Schweizer Grenze. Meine Kurzbeschreibung unseres Wohnortes. Jetzt war die Tochter soweit.

„Wie ist es eigentlich so in London zu leben?“ Ein Gedicht über das, was es ausmacht, das englische Lebensgefühl, will sie. Der Mann setzt sich an seine mechanische Schreibmaschine und seine Finger hämmern in die Tasten, die jeweils einen Buchstaben direkt auf das Papier stempeln. Rasant, die Wörter direkt graphisch gesetzt. Vermutlich schaue ich mit offenem Mund zu. Er zieht das Papier aus der Maschine und reicht es uns.

„Oh, wäre es vielleicht möglich, dass du es uns vorliest“, frage ich. Er nimmt sein Gedicht zurück und beginnt, etwas zögerlich. Dann liest er.

Keiner von uns spricht. „Wow“, bringe ich heraus. Ich habe gar nicht alles verstanden, bin aber sehr berührt. Allein schon die erste Zeile. So much of what we are is cloud

Und was sich dann alles entfaltet. Der Mann mit Glatze, randloser Brille, Vollbart und hellen Augen, er erinnert mich an das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Ich versuche meine Anerkennung in Worte zu fassen, wie auch immer unbeholfen. Aber etwas scheint anzukommen.

„Hey, du hast ja noch nicht einmal das Gedicht signiert oder deinen Namen darauf geschrieben“, stelle ich fest.

Wieder ein schüchternes Lächeln. Mich rührt diese großzügige Geste, die fehlende Eitelkeit, sein Werk ohne Autorenschaft der Welt zu schenken, Verfasser unbekannt. Kann es ihm nur darum gehen, ein paar Pfund damit zu verdienen, ohne Notwendigkeit, dem eigenen Tun eine Größe zu verleihen? „Luke Davis“, sagt er, als er mir das Blatt zurückgibt, für den Fall, dass ich seine Schrift nicht entziffern kann. „Und bis bald dann, am See, kurz hinter der Schweizer Grenze“, sagt er beim Abschied.

Ich finde unter den Eingaben Luke Davis Poet London tatsächlich etwas heraus und zeige es der Schreibenden:

Luke has been writing poetry for 23 years with a pure flame of idiot devotion. For the last 2 years he has been sitting by the Thames at Bankside, in all seasons, and writing poems for passers-by about anything from terminal cancer to pet pugs. This has left him with an anonymous, secret body of work distributed all across the world, framed in kitchens in Tasmania and bedrooms in Tennessee, poems dedicated to Brads and Bretts and Calebs, and hundreds and hundreds of lovers everywhere. This provides a healthy counterbalance to his own personal work which is typically of a perversely recondite and involved nature (although initiates will no doubt recognise the psychedelic influence and intent).

https://www.breakingconvention.co.uk/speaker-LukeDavis.html

die Schreibende: „Krasse Haltung. Die ringt mir echt Respekt ab. Doch nicht das naive Mädchen mit den Schwefelhölzern, sondern eine bewusste Entscheidung, die eigene Arbeit als ein anonymes geheimes Werk in der Welt zu verteilen“, stellt die Schreibende fest.

Unter dem Eintrag, der der ihn als Sprecher bei der BREAKING CONVENTION 2023 vorstellt, finde ich noch eine unauffällig gehaltene webside der POETS FOR HIRE, PAY WHAT YOU LIKE, von ihm und seinem Kollegen: https://wordtrade.co.uk/

Und trotzdem, es fühlt sich nach dem Gegenteil an von dem, was die allermeisten Menschen tun: statt sich selbst darzustellen und feiern zu lassen, sich in den Dienst zu stellen und zu verschenken – selbst wenn es das PAY WHAT YOU LIKE gibt.

„Ich muss da nochmal drüber nachdenken“, sage ich.

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