Kolumne Woche 20

Gefährliche Frauen 1

Ein Schuss knallt. Pinke Farbe läuft über einen in Gips modellierten Männerkopf. Eine junge Frau in einem weißen enganliegenden Kampfanzug spannt den Gewehrlauf und legt das Gewehr erneut an ihre Wange, zielt, drückt ab. Diesmal läuft blaue Farbe aus der Einschussstelle herunter. Peng. Peng. Peng. Sie lässt sich nicht aufhalten. Sie reicht das Gewehr weiter. Andere zielen auf das Relief.

Das habe ich nicht vergessen. Eine Szene aus einer Dokumentation über Niki des Saint Phalle, die ich mir während meiner eigenen Jugend angesehen habe. Eine Frau, die mit einer fraglosen Entschiedenheit zum Gewehr greift und schießt. Eine Frau, die sich nicht aufhalten lässt. Eine Frau, die die Konventionen sprengt. Eine Frau, die ihre Kinder bei ihrem Ehemann zurücklässt. Eine Frau, die von sich sagt, ohne die Kunst hätte ich nicht überlebt.

Ich erinnere mich an das Kribbeln in mir, als ich mir diese wilde schießende Frau ansehe, an die Spannung, die diese Szenen bei mir auslösen. Ich fand es großartig, befreiend und ein Teil von mir konnte damit nicht umgehen. Darf eine Frau das, die abknallen, die sie zum Opfer gemacht haben? Das Kribbeln ist geblieben.

Ich stehe in der Schirn Kunsthalle in Frankfurt, die mit einer großen schwerelosen bunten Nana auf pinkem Grund für die Retrospektive über Niki de Saint Phalle wirbt. Alles ist üppig an dieser Nana, der Bauch, die Brüste, das ganze Wesen. Ausufernd, entgrenzend. Hier in der Ausstellung bleibe ich an einer Lithographie hängen. Mit einer runden Schreibschrift steht da inmitten von schmelzenden Gletschern, sterbenden Korallenriffen und gefällten Bäumen: Stop the destruction of mother nature. Global warming is increasing more than expected, datiert 2001. Shit. 2001. Diese eindringliche Warnung wurde vergessen. Immer wieder vergessen. Gern vergessen. Vergessen gleich verdrängt. Auch ich? Lieber weiter wie bisher. Größer, weiter, schneller.

Was heißt es, Niki de Saint Phalle zu folgen? Sind die Aktionen der letzten Generation die geeigneten Mittel?

Aus der Vergessenheit herausgeschossen haben sich die Informationen zum Klimawandel allemal, die wie Feuerwerkskörper auf uns herunterregnen und verglühen, bis sie bei uns angekommen sind. Peng. Peng. Peng. Ein großes Feuerwerk der Informationen.

Geht es darum, die eigenen Kunstwerke mutig zu zerschießen? Peng. Peng. Peng. Den Gewehrlauf richte ich auf kunstvolle Gebäude, in denen sich mein Denken bewegt. Wissenschaft. Peng. Bildung. Peng. Reichtum ist Macht. Peng. Ich bin eine ohnmächtige Frau in patriarchalen Strukturen. Peng. Kollektive Traumatisierung. Peng. Die Grenzen des Wachstums. Peng. Unsere Demokratie schenkt Sicherheit und Freiheit. Peng.

Die Farben laufen die Leinwand hinunter. Es entstehen unkontrollierte Fließbilder. Ich nehme das Gewehr vom Anschlag und betrachte das neue Fließen. Darunter bleibt eine Frage stehen. Damit ich sie nicht mehr vergesse. Ich vertraue mich den mit der Schwerkraft fließenden Farben an.

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