Es ist Frühling. Die ersten grünen Spitzen schieben sich aus den nackten Ästen hervor, die jeden Winter so aussehen, als wären sie für immer dazu verdammt, karg und entbehrungsreich in der Straße zu stehen. Der radikal zurückgeschnittene Rosenstock stößt seine Triebe durch die dornenbesetzten Stümpfe.
Die Schreibende schiebt mir ein Blatt zu.
die Schreibende: Schau mal, hier sind meine Fragen.
ich: Fein, zeig her.
Wovon träumst du? Woran glaubst du? Wodurch versaust du? Was ist genug? Wen verehrst du? Mit wem verkehrst du? Was opferst du? Wer besiegt dich? Wer betrügt dich? Wann verdirbst du? Was verbirgst du? Was trinkst du? Was betäubst du? Wann verweilst du? Wer betört dich? Wer hört dich? Was siehst du? Was baust du? Was malst du? Was isst du? Wer bist du? Was liest du? Wann frierst du? Wozu stehst du? Wer kämmt dich? Was lähmt dich? Wer bedrängt dich? Wann kommst du? Was trägst du? Was fragst du? Wann spielst du? Was guckst du? Wem schreibst du? Was treibt dich an? Was reibt dich auf? Was erzählst du? Was zählt? Wer zahlt? Wann bist du soweit? Wozu bist du bereit? Wann hat es geschneit? Wer schmückt dich? Wer bedrückt dich? Was heilt dich? Was trifft dich? Wer begreift dich? Wie reifst du? Wie liebst du? Wie schläfst du? Wie stirbst du? Was rettet dich? Was beichtest du? Wie sündigst du? Was begehrst du? Wie betest du? Wen zeigst du an? Was geht dir auf? Was? Wann? Wozu? Wer? Wen? Wie? Was? Was? Wohin? Was?
die Schreibende
ich: Krasser Text.
die Schreibende: Das ist kein Text, das sind die Fragen, die mich wirklich beschäftigen.
ich: Für mich ist es halt ein Text.
Was zählt? Wer zahlt? Das finde ich schlicht genial. Wer zahlt, wenn das zählt, wo der Preis verschwiegen wird, den es langfristig kostet? Da steckt so viel drinnen in deinen Fragen. Mich berühren diese Fragen, weil sie zum Teil so in ganz tiefe Schichten hineinfallen, also mich existentiell betreffen. Was treibt mich an, was reibt mich auf? Wie sterbe ich? Das ist ja eine Frage, die sich nicht mehr von mir beantworten lässt, wenn ich sie auf meinen physischen Tod anwende und nicht im übertragenden Sinn beantworte. Je länger ich darüber nachdenke, desto größer finde ich deinen Text.
die Schreibende: Hey, das ist meine Fragensammlung, von der ich mir wünsche, dass du die Fragen mit dir herumträgst, sie in dir bewegst, mit Antworten experimentierst und sie wieder verwirfst.
ich: Also, wenn wir uns diese Fragen vornehmen, dann haben wir ausgesorgt, also ich meine, dann haben wir immer was zu schreiben.
die Schreibende: Was ist denn mit deinen Fragen?
ich: Die habe ich noch gar nicht aufgeschrieben.
die Schreibende: Du prokrastinierst.
ich: Neues Lieblingswort oder was?
die Schreibende: Es ist auf jeden Fall im Trend, das Aufschiebe Verhalten. Alles wird aufgeschoben.
ich: Auch das bessere Leben wird aufgeschoben. Findest du nicht?
die Schreibende: Ist das eine von deinen Fragen?
ich: Sieht so aus. Aber Spaß beiseite. Meine Fragen gehen tatsächlich eher so in die Richtung:
Was heißt es, anders weiter zu leben als bisher, jenseits von carbon footprint and handprint? Also im Grunde frage ich mich, wie ich leben will, um mich mehr im Einklang zu fühlen mit den Erfordernissen dieser Zeit?
Die mir vielleicht sogar ermöglichen, zu einer tieferen Ebene von Lebenszufriedenheit zu gelangen. Im Yoga gibt es so eine Pose, bei der die Lehrerin immer sagt, verschließe dich den Möglichkeiten, um dich ganz zu fokussieren und zu einer Klarheit zu gelangen. In mir gibt es eine Sehnsucht, nach wie vor, noch klarer auf das Wesentliche ausgerichtet zu leben.
Also eine weitere Frage ist, was ist das Wesentliche?
Vielleicht haben wir uns ja mit unserer Freiheit, uns nicht mehr alltäglich mit dem faktischen Überleben beschäftigen zu müssen, zu viele Möglichkeiten geschaffen, die Bedürfnisse wecken, die uns vom sinnerfüllten Leben entfernen.
Mich interessiert auch, wie wir es schaffen, uns in einer dermaßen ungerechten Welt zu beheimaten, ohne an unserem schlechten Gewissen zugrunde zu gehen, wenn wir wissen, dass andere den Preis für unseren Wohlstandskonsum zahlen? Die anderen sind auch die zukünftigen Generationen. Oder ich muss die Frage anders stellen.
Mich interessiert, was passieren muss, dass wir uns nicht mehr darin einrichten wollen, dass es uns hier und jetzt gut geht, sondern, dass wir Schritte gehen wollen, die dazu beitragen, dass es langfristig allen besser geht?
die Schreibende: Allen besser geht?
ich: Gut, ich gebe zu, ist ein bisschen hoch gegriffen.
Unter welchen Voraussetzungen gedeiht langfristiges und ganzheitliches Fühlen und Denken?
Die Frage klingt doch brauchbar, oder? Das ist meine Lieblingsfrage.
An deinem Gesicht lese ich schon wieder ab, dass du alles andere als begeistert bist. Gib‘ mit halt noch etwas Zeit, dann kann ich die Fragen präziser stellen. Ich denke halt hier gerade laut vor mich hin und nähere mich an.
Es interessieren mich auch Fragen im Hinblick auf das sozialpsychologische Experiment, die Feldstudie, Menschheit während einer Pandemie im 20. Jahrhundert. Wie funktioniert der Mensch im Angesicht einer diffusen Bedrohung des eigenen Lebens, im Angesicht von Angst? Ich muss gestehen, dass meine vorläufige Erkenntnis ist, dass Angst Überlebensmuster reaktiviert, die dem ganzheitlichen und langfristigen Fühlen entgegenstehen. Ich finde diese Erkenntnis sehr ernüchternd, erschütternd, wo ich doch so gern an das Gute im Menschen glauben will.
die Schreibende: Willst du Fragen stellen oder Antworten geben?
ich: Schon gut, schon gut. Vielleicht halten wir uns doch besser an deine Fragen, bis ich meine ausgearbeitet habe. Wozu bist du bereit?
die Schreibende: Halt! Das war meine Frage.
ich: Magst du deine Fragen nicht beantworten?
die Schreibende: Ich bin bereit mich zu riskieren.
ich: Was meinst du denn damit?
die Schreibende: Mit der Frage kannst du bleiben.
Und ich auch.
Gute Fragen!
Liebe Grüße aus Frankfurt
Max
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Grüße in meine Heimatstadt
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Genau das alles treibt mich auch um…..–Diese Nachricht wurde v
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🙂
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„we have created too many opportunities that awaken needs that distance us from meaningful life.“ …yes indeed !
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