Ich sitze im Café des Unverpackt Ladens. In meiner Vorstellung. Noch darf niemand in einem Café sitzen. Ich setze mich dennoch an den Tisch mit Terrassenfenster zum Hinterhof, so dass ich schreibend das Gras zwischen den Platten wachsen sehe in der Frühlingssonne. Obwohl noch gar nicht Frühling ist. So bin ich froh um den schützenden großzügigen Ladenraum, der mich umgibt. Ich trinke Cappuccino mit richtiger Milch, obwohl ich auch Hafer-, Soja- oder Mandelmilch hätte wählen können. Dazu esse ich ein Stück veganen zartbitteren Kuchen mit Agavendicksaft gesüßt, der genau die Aura von dunkler Schokolade verströmt, fest und geschmeidig ist, wie es mir in diesem Moment am besten mundet.
Der Unverpackt Laden heißt Silo. Im Namen liegt die Genialität verborgen. Der Laden selbst hat vom Grundriss die Form eines Silos, finde ich, wobei der Eingang der Auslassstutzen wäre, der sich durch einen Trichter in den großen Aufbewahrungsbehälter öffnet. Die Waren sind in Silos nachempfundenen Glasbehältern, an denen ich in meine Müslidosen und Schraubgläser Nüsse, Getreide, Müsli, Trockenfrüchte, Flocken und auch Agar Agar oder Backpulver zapfen kann. Alle als Schüttgüter verfügbaren Lebensmittel sind in diesen Glassilos an den Wänden aufgereiht. Ich drücke einen Holzhebel nach hinten und meine Dose füllt sich mit Haferflocken, wenn ich diesen Mechanismus mehrfach in Gang setze. Zuvor habe ich die Dose gewogen und ihr Gewicht mit einem Tesakrepp auf die Dose geklebt. 132g. Eine Müslikreation mit Haselnüssen und Apfelchips macht mich an. Zum Glück habe ich genug Dosen dabei. In den Flyer der Müslirösterei werfe ich einen Blick: „Wir haben HEYHO gestartet, weil wir an eine bessere Wirtschaft glauben. Werde Teil unserer nichtindustriellen Revolution und lass uns zeigen, dass wir gemeinsam die Dinge zum Guten verändern können. … Wir glauben an zweite Chancen und schaffen echte Perspektiven für Menschen, die vom ersten Arbeitsmarkt ausgeschlossen sind.“ An der Kasse ist die Mitarbeiterin überrascht, wie teuer meine gefüllte Dose mir kommt. Ich denke, dass es sich lohnt, Geld in eine menschlichere Wirtschaft zu stecken, auch als Verbraucherin Visionen zu unterstützen, so ich es mir leisten kann. Gleichzeitig höre ich meine innere Buchhalterin, die mich daran erinnert, nicht übermütig zu werden vor lauter sozialem und ökologischem Engagement. Die nervt mich. Mal sehen wann meine Visionärin sich durchsetzt.
Ich versetze mich für Momente in die Krämerläden der Vor- und Nachkriegszeit, in denen ich die Waren mit den Schüttgütern in Säcken auf dem Boden stehen sehe, die in Papiertüten geschippt oder direkt in der Küchenschütte nach Hause getragen wurden. Die Entwicklung von kleinen Verpackungseinheiten ist eine Errungenschaft der letzten fünfzig Jahre, das dämmert mir. Im Netz lese ich, dass Konsumforscher den Trend zu immer kleineren Verpackungseinheiten feststellen. Gründe seien zunehmende Anzahlen von Single- und Seniorenhaushalten, vom Konsum unterwegs. Mit Erschrecken erinnere ich mich an den letzten Frankreichaufenthalt, wo ich keine Kekspackung fand, in der die Kekse nicht auch noch einmal einzeln verpackt waren. Wie anachronistisch erfrischend kommt da das Obst- und Gemüseregal im schmalen Eingangsbereich im Silo daher, wo die eingetroffene Ware aus Portugal in Holzkisten ausliegt und sich jeder Normierung verweigert. Die Bananen sind klein, grün (und werden noch gelb und sich ausgesprochen lecker!) und haben Verfärbungen. Auch die Ananas sehen aus, wie Kinder die viel draußen spielen und sonnenverwöhnt, von Luft und Bewegung, am Abend wieder erfüllt nach Hause kommen. Sicher kann ich auch einen gänzlich anderen Blick auf die Ware legen, aber mir gefällt dieser, denn ich kann Überzeugung, Enthusiasmus, Leidenschaft und Idealismus aller an dieser Handlungskette beteiligten Menschen spüren.
Im Bereich, in dem auch die Verkaufstheke steht, sind Reinigungsmittel zum Abfüllen und Kosmetikprodukte, Aufbewahrungsbehältnisse aus Edelstahl, to go Tassen aus Porzellan. Das nächste Mal bringe ich die gesammelten Spülmittelflaschen und Cremedosen mit, dieser Teil ist noch etwas unterbelichtet bei mir.
Schade nur, meint meine Tochter, dass alles teurer sein muss und es sich nur Menschen mit einem entsprechenden Einkommen leisten können. Ja, auf den ersten Blick ist das sicher so. Dennoch wandeln sich Überzeugungen und Wertmaßstäbe und Menschen richten ihr Leben so aus, dass das vorhandene Geld komplett anders eingesetzt wird. Vielleicht braucht es dafür die konsequenten VorreiterInnen, die sich nur mit getauschten Kleidern einkleiden, weiter schenken, statt Geschenke zu kaufen, ohne eigenes Auto mobil sind und dem Konsum an vielen anderen Stellen den Rücken kehren. Obwohl wir versuchen, Verpackungen bestmöglich zu vermeiden, merke ich in dem Laden, wieviel Luft nach oben ist.
Es geht immer noch mehr auf dem Weg zu einem unverpackten Leben. Vielleicht gehört dazu, die Kälte direkt auf meiner Haut zu spüren und zu erleben, wie es mich erfrischt und lebendig macht, wenn ich nach 2 bis 3 Minuten aus dem 4 bis 6 Grad kalten See steige. Ich gehöre seit zwei Jahren zur wachsenden Gruppe der Eisbadenden. Ein freiwilliger Genuss. Manchmal stelle ich mir vor, wie unsere Vorfahren die wärmenden Sonnenstrahlen empfunden haben, nach frostigen Nächten mit steifen Fingern und angefrorenen Füßen unter kalten Bettdecken. Wie Dunkelheit für sie erfahrbar war in Neumondnächten, in denen sie ihre eigene Hand nicht vor den Augen gesehen haben. Ich entbehre meist dankbar diese extremen Sinneserfahrungen und Grenzerlebnisse. Ganz mag ich mich dennoch nicht in der digitalen Bequemlichkeit einrichten, die nur einen kleinen Radius meines Menschseins anspricht, wenn ich nicht mehr für die Alltagsbewältigung vor die Türe gehen muss, viele Menschen ihre Berufe digital ausüben und wir dank der neue Dienstleistungsbranche unsere Konsumwünsche frei Haus erfüllt bekommen. Ja, es entsteht für viele Menschen Freiraum zum Spazieren gehen, wenn die Sonne scheint, da sie die Zeit für Arbeitswege, lästige Einkäufe und sonstige Erledigungen einsparen. Ich kann nicht wirklich mitreden, weil ich einen kurzen Arbeitsweg habe und so froh bin, notwendig bei meinem Weg von A nach B an der frischen Luft gewesen zu sein. Auch ich stecke mitten im bequemen Leben, eine Packung Haferflocken auf Vorrat muss in der Schublade liegen und ich bleibe Kundin in Biosupermärkten, trotz beständiger Einkäufe auf dem Wochenmarkt. Es bleibt eine Annäherung.
Meine Vision von einem unverpackten Leben bleibt.
Schlicht, unverstellt, direkt, verletzlich, wesentlich, fokussiert und mäandernd.
Solche Wörter fallen mir ein. Ich nähere mich an und komme dabei mit der Kraft von gelebten Visionen in Kontakt. Mit jedem Schritt packe ich meine ureigene Vision weiter aus, komme dem Wesentlichen näher.
Beim Rausgehen fällt mein Blick noch auf die Kerzen aus recyceltem Wachs mit eben einer solchen Sammelstelle für Wachsreste. Auch umgesetzte Kreislaufwirtschaft. Ich wähle eine apricot Farbene aus, finde es bewegend, wie viele kleine feine beeindruckende engagierte Projekte und wie viele unbeirrte, visionäre und großartige Menschen es gibt. Zu Hause zünde ich die Kerze an. Sie flackert.
28.02.21