Die Schreibende und ich 11

Mit dem ersten Kaffee an einem grauen Novembertag, an dem der Himmel weiß statt blau ist, vielleicht ist es auch ein ganz lichtes Grau, wenn ich noch genauer hinschaue, meine ich sich bewegende Grauschattierungen wahrzunehmen, ein wandernder Hochnebel. Die Schreibende kommt vorbei.

die Schreibende: Sag‘ mal, warum hast du unsere letzte Episode der Reisenden ins Netz gehauen, ohne vorher nochmal mit mir darüber zu sprechen?

ich: Ach, Du kennst mich doch.

die Schreibende: Nein, offenbar nicht, sonst hätte ich ja nicht gefragt.

ich: Ich habe einfach gedacht, dass muss jetzt raus, sofort, sonst geht die Energie aus der Reisenden heraus, wie Luft, die aus einem Luftballon weicht. Hättest Du von Dir aus nochmal daran weiter gearbeitet?

die Schreibende: Klar. Das bleibt doch interessant.

ich: Das Thema schon, aber wenn die Episoden dann schon so angestaubt sind.

die Schreibende: Nein, sie sind abgehangen und können dann erst ihre Wirkkraft entfalten, weil ich das mit dem richtigen Abstand erst richtig erfasse und herausstellen kann.

ich: Immer dieser zugrundeliegende Perfektionismus, dann dauert alles ja Jahre.

die Schreibende: Alles Mögliche raushauen, davon ist die Welt ja nur wirklich übervoll. Dann doch lieber weniger, aber mit etwas, was wirklich nachhaltig bleibt.

Zum Beispiel wäre noch so viel mit der letzten Episode möglich gewesen. Ich hätte die drei noch auf den zerklüfteten Schädelplatten des Gurnards Head herumklettern lassen, der sich weit ins Meer hinausschiebt, einzigartige Ausblicke. Dann die Mutter, die spürt, wie sie gar nicht hinsehen kann, wenn aus ihrem Blickwinkel die Kinder an den Abhängen entlang klettern und deren Herz rast und der Atem sich beschleunigt. Sie beschließt zurückzubleiben, legt sich auf den Boden, schaut in den Himmel. Dann spült sich die Angst durch ihren Blutkreislauf, durch die Venen zurück zum Herz, eine auf ihr Herz zupackende Kralle, ob sie es will oder nicht. Sie ist permanent dabei, sich zu beruhigen, dass ihre Kinder verlässliche Kletterer sind, bedächtige Menschen, aber die Zeit vergeht so quälend langsam, in der die Felsen die Kinder verschluckt haben. Es malt sich in ihr aus, sie will es gar nicht, die Kinder blieben verschwunden und sie fühlt schon mal mit allen mit, deren Liebste als vermisst nicht mehr zurückgekehrt sind. Stell Dir vor, dann könnte man es noch dramatisch zuspitzen, wenn die Kinder tatsächlich nicht zur vereinbarten Zeit zurückkommen, die inneren Kämpfe, die Versuche sich selbst zu beruhigen.

ich: Das ganze Drama halt, das wäre dann etwas, was Deiner Ansicht nach nachhaltig Eindruck macht? Das ist doch nicht Dein Ernst?

die Schreibende: Nachhaltig ist vielleicht nicht das richtige Wort. Es wäre immerhin mal zugespitzte Spannung. Das berührt doch das größte existentielle Drama überhaupt, den möglichen Verlust der eigenen Kinder.

ich: Und das findest Du in einem Absatz der Reisenden gut aufgehoben?

die Schreibende: Ach, lass mich doch in Ruhe, ich meinte ja bloß, Du hättest mich wie abgesprochen mal fragen können. Außerdem ja, ich finde schon, dass sich das Besondere an dieser Reisekonstellation auch in solchen urmenschlichen Gefühlen offenbaren kann.

ich: Und was hat dann der Leser, die Leserin davon?

die Schreibende: Sie erkennt sich vielleicht wieder. Und fühlt sich nicht so allein mit ihren Erfahrungen von Verlustangst. Und vielleicht ringt die Mutter ja auf eine Weise, die der Leserin oder dem Leser nicht nur Abgrund, sondern auch Trost sein kann. Das käme ja darauf an, was wir schreiben.

Aber wieso bespreche ich das überhaupt mit Dir, wo Du ja maximal jedes dritte Buch zu Ende liest, weil sie Dir entweder zu emotional aufgeladen, zu gnadenlos konfrontierend, zu düster oder zu belanglos sind.

ich: Hast ja Recht, vielleicht lese ich nicht so gern dahin, wo es richtig weh tut. Manchmal kommt es mir so vor, wie ohne Zugewinn in Wunden herumzurühren. Ich empfinde halt alles so intensiv mit, das hast du zutreffend zusammengefasst. Zeit ist kostbar.

Aber komm, lass uns doch die letzte vorbereitete Episode noch überarbeiten, dann können wir die auch die Tage ins Netz stellen. Ich habe tatsächlich nicht so viel Vertrauen in unser Durchhaltevermögen.

die Schreibende: Nur um Dich nochmal daran zu erinnern, das ist ja unser Grundkonflikt. Das hat nichts mit Durchhaltevermögen zu tun. Das hat damit zu tun, dass Du zu viel willst, wenn der Tag lang ist und ich viel zu wenig konsequente Aufmerksamkeit von Dir bekomme.

ich: Hör mal, dafür habe ich noch ein weiterers phänomenales Thema für uns, dass mir bei der Gestaltung der Kalenderseiten in die Hände gefallen ist: die HYBRIS

die Schreibende: Bitte nicht jetzt. Meine Zeit ist kostbar.

Die Reisende 5

Es werden immer weniger Blätter, die an der Linde vor meinem Fenster in leuchtemden Gelb zittern, weil ein sanfter Wind durch die Straße weht. Es ist nass und der Hochnebel tilgt die Farben aus dem Himmel. Genau die richtige Stimmung, um mich wieder der Reisenden zuzuwenden.

Diese Episode beginnt lesend. Es ist Anfang des Jahres. Ich überlasse mich dem Sog des Buches SALZPFAD von Raynor Winn:

„Von Clodgy Point aus erstreckte sich das grün schimmernde Licht Richtung Osten, aber im Westen türmten sich bereits Quellwolken mit der typisch weißen Oberseite, und der auffrischende Wind blies einzelne Wolkenfetzen in unsere Richtung. Der Coast Path führte in eine aus unzähligen Landzungen bestehende Wildnis: Hor Point, Pen Enys Point, Carn Nuan Point und viele weitere, die noch außerhalb unseres Blickfeldes lagen. Nur die Landspitzen und der Atlantik, eine schroffe, urtümliche, fast bedrohliche Landschaft. Eine Landzunge nach der anderen. Während wir weiterwanderten, wurde der Himmel im Westen dunkler, stürzten abbröckelnde Steine ins Meer, begann sich weißer Schaum auf dem Wasser zu bilden, das ebenso undurchsichtig wirkte wie die tief hängende Wolkenmasse. Ein geheimnisvolles Land aus Felsen, geformt von Wind und Wetter, isoliert und weltabgeschieden. Seit Jahrmillionen unverändert und doch den ständigen Veränderungen durch Meer und Witterung ausgesetzt, ein Widerspruch in sich am westlichen Rand der britischen Hauptinsel. Unbeeindruckt von Zeit und Menschenhand zehrte dieses alte Land an unseren Kräften und unserem Willen und zwang uns dazu, uns den Elementen, die es formten, zu beugen.“

Raynor Wynn Der Salzpfad

Vielleicht beginnt die Geschichte in dem Moment, als ich im Buchladen zu diesem Buch greife. Was hat mich angesprochen? Nach was habe ich Ausschau gehalten? „Eine wahre Geschichte über den Triumph der Hoffnung über die Verzweiflung und den Sieg der Liebe über alles andere“, steht fettgedruckt auf dem Buchrücken. Vielleicht war es die Jugendliche in mir, die die wahre abgeschlossene Geschichte in der Fernsehzeitung liebt, die ihre Hand nach dem Buch ausstreckte und die ebenso fühlt, wie es ist, „Kraft aus der Natur zu schöpfen“.  

Es ist ein Buch über unbarmherzige Schachzüge des Lebens. Ein Paar, das die jahrzehntelang liebevoll aufgebaute Farm verliert, der Mann, den eine Krankheit im Griff hat. Als es nichts mehr zu verlieren gibt, am Tiefpunkt, macht es sich mit einer dürftigen Ausrüstung und ein paar Pfund in der Tasche auf den Weg, den ganzen South West Coast Path entlang zu wandern. Wie immer wenn ich lese: ich lebe mit, ich leide mit, ich liebe mit.

Wieso also nicht Cornwall, eine Küste entlang wandern, meine Sehnsucht nach Meer und Felsen, Himmel und Weite, Transformation, nach einfach, nach Schritt für Schritt stillen?

Cornwall also. Wandern also. Tageweise und in zwei Tagen von St. Ives nach St Just. Ich rufe in der Herberge in St Just an. Ob wir unser Gepäck da lassen können. Und wo wir übernachten können auf dem Weg von St Ives zurück nach St Just. Das Englisch der anderen Stimme am Telefon verstehe ich schlecht. Aber unser Gepäck können wir deponieren, verstehe ich und manche wandern die Strecke in einem Tag, aber ja, das sei schon heftig. Ich will keine quälende Grenzerfahrung, also wo wir übernachten können, frage ich wieder. Ja, das sei schwierig, verstehe ich. Da gäbe es kaum etwas. Ich solle Gurnard‘s Head eingeben. Dass sei ungefähr in der Mitte. Wie bitte? Wo bitte? Ich lasse es mir buchstabieren. Und accomodation soll ich eingeben. Der naheliegende Gedanke taucht auf, auf die ganze Reise unser Zelt mitzunehmen. Der Sohn bringt sein Unbehagen zum Ausdruck.
„Also was denn jetzt? Kultur oder Outdoor Adventure. Das ist ja eine komplett andere Art zu packen.“ Nein, Zelt überfordert mich. Komplett Outdoor ist zu viel Abenteuer gleichzeitig. Ich gebe Accomodation gurnard’s head ein. Ein einziges Bed and Breakfast taucht auf. Und ein Nobelrestaurant mit Zimmern. Davon hat die Stimme, die ich so schlecht verstanden habe, gesprochen. Etwas sehr Teures gebe es da nur. Ich schreibe beide Möglichkeiten an. Die Frau von dem Bed and Breakfast auf der Farm meldet sich zuerst.  

Als wir nach unserer Wanderung naßgeschwitzt ankommen, empfängt uns eine hagere braun gebrannte Frau in Jeans, die schlohweißen kräftigen langen Haare zu einem Zopf zusammen gebunden.

„Ihr seid zu früh, ab 16 Uhr ist Ankunft.“ Kurze Pause. „Aber ich bin ja da, hätte halt sein können, dass nicht“.

„Ach, ich dachte, wir werden unsere Rucksäcke los und erkunden dann nochmal den Gurnards Head“, antworte ich, „und ich brauche eine Pause. Zum Glück habe ich die jungen starken Menschen bei mir, die die Rucksäcke tragen“, setze ich fort. Ich erinnere mich an unsere erste Hüttentour, als mein Rucksack bis zum Rand gefüllt ist und ich mit den beiden mit ihren Kinderrucksäcken von der Schweiz nach Italien wandere. Ausgleichende Gerechtigkeit.

„Ich bin alt und stark“, sagt die Gastgeberin lachend.
Danke, denke ich, glaube ich sofort, nur ich fühle mich gerade nicht so.

Sie zieht uns vor eine Karte, die in ihrem Flur hängt.
„Die müsst ihr abfotografieren, da könnt ihr euch immer orientieren. Ihr könnt hier wieder zurück, wo ihr gekommen seid, dann lauft ihr bis zum Gurnards Head und entweder hier durch die Felder zurück. Das ist eine kleine Runde. Oder ihr lauft noch bis nach Porthmeor Cove, dass ist wunderschön, eigentlich müsst ihr da noch hinlaufen, dann wieder landeinwärts bis zu einem Sträßchen und über die Felder zurück. Das ist eine etwas größere Runde. Morgen könnt ihr überlegen, ob ihr die erste Landzunge weglasst, dann spart ihr etwa eine Stunde Strecke.
Wann wollt ihr frühstücken? Von mir aus gern früh, ich bin früh wach.“

Also die werden wir nicht mehr zu Gesicht bekommen, denke ich. Wir schauen uns an, einigen uns auf halb 8 Uhr. Ich mag sie trotzdem. Es ist auch mal schön, von einer Frau an die Hand genommen zu werden.
Wir bahnen uns den Weg durch den Flur, in dem sich allerhand Schätze sammeln. Der Anteil von Gerümpel und Raritäten ist nicht genau auszumachen. Mit Tüchern abgedeckte Quader und Berge wahren einen einladenden Eindruck. Der Boden und die Treppen sind mit einem blumigen Teppich ausgelegt.

Nachdem ich eine Zeit auf dem Bett in den Tiefschlaf gesunken bin, machen wir uns wieder auf den Weg. Die große Runde. Ich kann mich immer noch nicht satt sehen: Die an die Klippen heranrollende Brandung, die Farben des Meeres. In manchen Buchten türkis schimmernd wie auf karibischen Werbeplakaten, dann wieder tiefblau zu der schäumenden Gischt einen Kontrast bildend, wie ich sie auf Turners Gemälden erblickt habe. Die zurückrollenden Wellen lassen braune Felsbänke zurück und ich stelle mir vor, wie sich die Seehunde darauf sonnen. Der blühende Ginster duftet nach Kokos und ich kann ihn so im Kontrast zum Meer fotografieren, dass er noch gelber leuchtet als ohnehin. Jede neue Landzunge entblättert eine eigene Schönheit vor meinem Auge, tief eingeschnittene Buchten, die der Pfad abschreitet. Es ist noch ergreifender, als ich es mir vorgestellt habe.

Am nächsten Morgen spricht unsere Gastgeberin etwas mehr. „Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie manche Menschen hier ankommen. Sie sind völlig fertig, weil sie diese Art nicht gewohnt sind, dieser Step breaking walk, wo jeder Schritt ein Ausgleich mit dem ganzen Körper braucht, weil es keinen Moment einen ebenen Weg gibt. Selbst erfahrene Alpenwanderer haben da ihre Mühe. Andere rasen durch die Landschaft, ohne irgendetwas wahrzunehmen und wollen nur Strecke machen. Da gebt ihr ein richtig gutes Bild ab.“

Na, da sind wir wohl in ihrem Ansehen gestiegen, weil wir noch die große Runde drangehängt und sie in Ruhe gelassen haben. Und es scheint mir genau das, was ich genieße, den Step breaking walk, wenn laufen tanzen wird, wenn ich mich durch die Landschaft bewege mit allen Felsen, Steinen und Büschen.
Wir begegnen wenigen Menschen. Ein älterer Herr, mit einer gelben Krawatte kreuzt den Weg. Er sagt etwas zu mir im Vorbeigehen, was ich nicht gleich verstehe. Ich frage nach.

„Ist das nicht ein wundervoller Tag?“

„Ja, wirklich. Der ideale Tag, um sich dieser Landschaft zu überlassen, die noch viel atemberaubender ist, als ich es erhofft habe.“

„Ich wohne jetzt im Altenheim in Truro, aber ich bin an der Küste aufgewachsen, und wann immer es mir möglich ist, komme ich hierher“. Ich höre eine ganz große Liebesgeschichte heraus, die in seiner Stimme vibriert. Das Land, die Liebe seines Lebens?

Bevor wir vertiefter ins Gespräch eintauchen können, fordert er mich auf, „eilen Sie doch Ihrer Reisegruppe nach, es tut mir leid, dass ich Sie aufgehalten habe“.

„Ach, meine Kinder warten früher oder später auf mich“, beruhige ich ihn, „es war mir eine Freude“.

Die Reisende 4

ich: Stell Dir vor, ich habe gerade ein einstündiges Feature über die Wolken gehört auf BR2. Da kam sogar der Londoner Wolkenforscher vor. Ich weiß jetzt wie der heißt, Luke Howard, the godfather of the clouds, hat ihn mal jemand genannt.

die schreibende: Jetzt bist du wieder ganz im Glück, dass das Leben dir die Wolke reicht.

ich: Genau, kennst mich halt schon. Ich finde diese Art, wie das Leben meinen Gedankenstrom ungewollt füttert phänomenal. Wie unser poet to hire geschrieben hat:

cirrus und cumulus, in plaistow they named them

Und pass auf, es geht noch weiter. Im Radio Feature kam noch die Rede auf die Ausstellung Nebelleben in München, in der wir waren. Erinnerst du dich noch an Fujiko Nakaya, die 89-jährige Japanerin, die konsequent lebenslänglich an dieser Fusion von Kunst, Wissenschaft und Natur dran war, die mich mit ihren Nebelskulpturen total fasziniert hat.

die schreibende: Ich bin ja nicht dement, das war ja erst in den Pfingstferien. Natürlich weiß ich noch, wie wir auf Holzplattformen in einem gefluteten Haus der Kunst standen, es zu zischen begann, dann der aufsteigende Nebel, das Nichts, wo eben noch Wege und Menschen waren. Ich geb‘ zu, das war eindrücklich. Die zischenden Düsen und Stimmengemurmel. Statt noch was zu sehen, gab es nur noch was zu hören.

ich: Mich hat auch noch beeindruckt, auf diese Weise die Frage zu stellen, was Kunst ist und dafür zu sensibilisieren, wie wir als Menschen mit der Natur interagieren. Also frei nach Watzlawick, wir können nicht nicht Einfluss nehmen auf die Naturphänomene. Unsere bloße Präsenz, die Wärme unserer Körper beeinflusst die Nebelskulptur, wie weit sie aufsteigt und in welcher Geschwindigkeit sie kondensiert. Das ist natürlich nur exemplarisch. Wir interagieren ständig, ob konstruktiv oder destruktiv bleibt eine Frage der Perspektive.

die schreibende: Klingt bisschen weit hergeholt, aber immerhin hast du doch die perfekte Überleitung zu unserer nächsten Londoner Episode. Mit Liz in der Tate Modern.

4

Tate Modern ist der einzige Ort, der auf meinem Plan steht. Die Künstlerin in mir liebt Ausstellungen und ist in den letzten Jahren ziemlich kurz gekommen. Deshalb freut sie sich, als da ein eckiger Fabrikbau vor uns liegt, in dem früher Energie gewonnen wurde, der jetzt ein Museum beheimatet. Obwohl alles in London und England richtig viel Eintritt kostet, ist der Eintritt in die Tate Modern frei. Es ist kurz vor zwei und ich lese auf einem Schild, dass um 14 Uhr eine öffentliche Führung beginnt.
„Komm, das machen wir“, sage ich zu den Kindern und warte keine Antwort ab. Wir suchen den zweiten Stock im Blavatnik Gebäude, da soll der Treffpunkt sein. Da steht eine zierliche kleine Frau, ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Ein Tate Modern Anhänger, der ihr um den Hals hängt, weist sie als Mitarbeiterin aus. Dabei sieht sie aus wie ein Mädchen, dass verschickt wurde und darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich frage nach der Führung.

„Ja“, sagt sie, „ihr seid richtig, ich mache die Führung, nur außer euch ist bisher noch niemand gekommen“. Oh je, denke ich mitfühlend und kann mir gar nicht vorstellen, wieso es keine Menschen gibt, die sich wie ich an die Hand nehmen lassen wollen. Sie schaut sich suchend um, sieht noch ein Paar, was in die Nähe kommt und indirekt interessiert schaut. Immer diese indirekten Annährungen. Die kleine Frau macht einen Schritt auf das Paar zu, lädt sie ein und das Paar bleibt in unserer Nähe stehen.

„Ich heiße Liz und mache diese Führung zum ersten Mal. Wir sind eine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die Führungen anbieten. Wir sind völlig frei, was wir uns dabei aussuchen dürfen.“ Bei dieser Aussage strahlt sie uns mit aufgeregt leuchtend blauen Augen an. Mittlerweile sind noch einige andere Menschen stehen geblieben, wir sind ein Grüppchen von 8 bis 10 Personen. Liz beginnt über das Gebäude zu erzählen.

„Der eine Teil, in dem wir stehen heißt Blavatnik, nach dem Oligarchen benannt, der aus der Ukraine stammt, aber in USA und England lebt und das ganze Gebäude finanziert hat. Er ist so reich, dass es viele Gebäude gibt, die nach ihm benannt sind, weil er sie gezahlt hat. Willst du, dass dein Name auftaucht, dann kaufe dir dein Ansehen über gute Taten“, sagt Liz als Feststellung, ohne jeden Zynismus, aber wohl doch im Wissen um Macht und Ohnmacht, in Abhängigkeit vom Besitz der Mittel. Ich merke, wie ich anders darauf reagiere, dass Blavatnik ukrainischer Abstammung ist, seit es den Angriffskrieg Russlands gibt und ich auf unzähligen Benefizveranstaltungen doch einiges an Wissen gesammelt habe, obwohl die Ukraine ein zuvor genauso unterbelichteter Ort auf meiner inneren Landkarte war, wir Kirgisistan, Lettland oder Tschetschenien, ja wie eigentlich alle Sowjet Republiken. Jetzt stehe ich in einem der renommiertesten Kunstmuseen, dass vollständig von einem ukrainischen Oligarchen finanziert wurde. Das muss ich erst einmal verdauen.
„Der andere Gebäudeteil heißt Natalie Bell, benannt nach einer englischen Aktionskünstlerin“. Da suchen die Engländer nach Ausgleich und das ist mir sympathisch. Liz möchte uns gern etwas aus dem Bereich Materials and Objects näherbringen.
„Die Tate Modern hat ihre Ausstellung nach Themen sortiert, nicht zeitgeschichtlich. Es gibt Themen wie Asien, Frauen, People of colour, Reisen, Tiere, Migration, die inhaltlich ausgerichtet sind“, zählt Liz auf, „aber ich bin fasziniert von dem Bereich Materialen und Objekte“.

Liz hat sich Karteikarten gemalt, die sorgfältig gestaltet aussehen, wenn ich einen Blick darauf erhasche, während sie vorträgt. Wir halten in einem Raum mit dem Urinal von Duchamp auf, the fontain.
„Duchamp hatte das Urinal unter einem anderen Namen als Ausstellungsobjekt bei der Gesellschaft der unabhängigen Künstler 1917 in New York eingereicht und wurde abgelehnt, woraufhin die Debatte entbrannte, was denn nun eigentlich Kunst ist und ob man ein Urinal aus dem Sanitärfachgeschäft zu Kunst erklären kann“. Liz ist ganz involviert in ihre Führung. Sie versucht uns mit einzubeziehen.
„Was glaubt ihr, was hättet ihr gemacht, wenn ihr im Entscheidungskomitee gesessen hättet?“ Die Antworten bleiben aus.
„Ich habe mich das selbst oft gefragt und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür gestimmt hätte“.  Sie sagt es in einer Art, als würde sie bedauern, nicht von sich behaupten zu können, dass sie in jedem Fall so frei in ihrem Kopf ist, dass es für sie keine Frage wäre, das zu bejahen. Liz ist sichtlich begeistert von den revolutionären Fragen, die Duchamp mit seinem Ready Made dieser Art ausgelöst hat: Was ist eigentlich Kunst?

Während ich mich von ihrer durchringenden Art anstecken lasse, flüstert mir meine Tochter ins Ohr:
„Ich verstehe überhaupt nicht, wie sie so lange über so ein Ding sprechen kann?“ Liz stellt uns in der einen Stunde noch vier weitere Kunstwerke vor.
„Mama, die kann ja über jedes Kunstwerk so lange sprechen“, staunt und stöhnt meine Tochter und klinkt sich aus.

Ich bleibe dran!
Bei dem Kunstwerk Haegue Yang Sol LeWitt Upside Down – Structure with Three Towers, Expanded 23 Times, Split in Three 2015 fragt Liz wieder uns zuerst, wie wir das Kunstwerk empfinden. Was empfinde ich denn, wenn ich unter einer von der Decke schwebenden geometrischen Installation aus lauter Rollos herumlaufe? Es schwebt, es oszilliert, es ist leicht, es ist klar, es spielt mit dem Licht, es spielt mit mir, ich mag es. Vor allem mag ich vermutlich Liz, die mir ihre Zuwendung zu den Kunstwerken schenkt, die mich veranlasst zu bleiben und zu spüren und mir ihre Geschichten dazu anzuhören.

Ich lese noch einmal nach, was über das Kunstwerk Mark Dion Tate Thames Dig 1999auf der Website der Tate Modern Gallery zu finden ist. Vieles von dem hat uns Liz erzählt. Krass, was für einen Unterschied es macht, leidenschaftlich durch Lizs Stimme aufgefordert zu werden, mir Fragen zu stellen, als eine von unzähligen Ausstellungsinformationen zu überfliegen. Liz zeigt uns die Fundstücke, ausgegraben an den Ufern der Themse von Londonern, angeordnet wie archäologische Kostbarkeiten.
„Was ist kostbar genug, um in einer Wertigkeit suggerierenden Mahagoni Vitrine ausgestellt zu werden,“ fragt sie uns.
Die Schubladen mit den nach Materialen sortierten und angeordneten Fundstücken lassen sich herausziehen. Ich ziehe die Schublade mit den Keramikscherben heraus, die sich in ihrer farblichen Anordnung wie ein Mosaik zu einem Bild zusammenfügen. Scherben, Bruchstücke, Fundstücke.

„Grabt, findet Splitter, Scherben mit Bruchkanten, wendet Euch zu, aus dem Zusammenhang heraus, staunt über die Intensität der Fundstücke, sie fügen sich zu einem Bild zusammen“, höre ich mich Wochen später in meiner Schreibgruppe sagen. „Sie werden genau so wertvoll und groß, wie ihr sie wertvoll und groß sein lasst“. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Menschen wie viele Tage das Ufer abgegraben haben, dann weiß ich wieder, es braucht Zuwendung, Zeit, Zielstrebigkeit und sowohl Lust am Finden, als auch das Vertrauen, dass sich die Mühe lohnt.

Es geht noch weiter. Ich bleibe dran! Seamless heisst das nächste Kunstwerk von Sarah Sze bei dem sie aus Kabeln, Drähten, Streichhölzern, Sieben, Stangen, Löffeln, Pinseln ein um sich greifendes Gebilde in den Raum und in die Wände hineinwachsen lässt, in die dafür quadratische Löcher geschnitten wurden. Es hört nicht auf zu wachsen, selbst wenn wir es nicht mehr sehen, es gibt ein Werk hinter der Wand, ein Leben unter der Erde, ein Wachsen, das Räume verbindet. Liz holt Gegenstände aus ihrer Tasche, die sie mit sich herumgetragen hat und breitet sie vor uns aus.

„Was seht ihr?“, fragt sie uns. Den Inhalt der Schublade, in der sich alles sammelt, was keinen klaren Ort findet. Ganz klar. Und jetzt ein Kunstwerk, aus all diesen Materialen, die uns alltäglich umgeben, die herumfliegen, die in keine Kategorie passen. Mich rührt Lizs pädagogischer Einsatz, ihr Anschauungsunterricht. Mir gefällt es, wie eines ins andere übergeht, wie es nirgendwo aufhört und anfängt und doch voller Abenteuer und Geschichten steckt. Die Künstlerin schafft ein luftiges Gebilde, das mich an die Mobiles von Alexander Calder erinnert.

Ich erinnere mich, wie ich allein durch die Ausstellungshalle in Bonn streife in den neunziger Jahren, wie die Mobiles mich erregen, so wie es manche Werke tun, die auf etwas in mir treffen, das ich vielleicht Empfangsantennen oder Rezeptionsnerv nennen kann. Es ist tatsächlich eine Form der Erregung, ich bin aufgeregt und angeregt zugleich, dass sich in mir das in Material Verdichtete entschlüsselt und eine intime Begegnung stattfindet.

„Ich müsst Euch unbedingt noch die Ausstellung Performer und Participant anschauen im Natalie Bell Teil“, sagt Liz zu uns beim Abschied.  

Noch mehr? Geht noch was? Wir gehen erst mal aufs Klo. Nein, es geht nichts mehr. Vor allem ich kann nicht mehr.  Ich mache mich von der Hand los, an die Liz mich genommen hat und drücke auf die Pausentaste.

Das Feature zu den Wolken zu hören auf:

https://www.br.de/mediathek/podcast/bayerisches-feuilleton/bayerische-kraftplaetze-die-wolke/1877580

Die Reisende 3

die Schreibende: „Sag mal, was ist denn in dich gefahren, dass du heute schon wieder an unserem Blog über die Reisende arbeiten willst?“

ich: „Ich bin halt im Flow, Schreibflow, Lebensflow, Reiseflow, dranbleiben, nachholen, aufholen, einholen“.

die Schreibende: „Du bist halt im Flow – was soll das denn jetzt heißen, fließ mich weg, oder was?“

ich: „Also noch einmal gesammelt. Erstens will ich mich tatsächlich an unsere Verabredung halten, einmal in der Woche eine Episode für andere Menschen lesbar zu machen. Zweitens ist K. gerade mit ihrer Tochter in London und das motiviert mich auch, mich auf diese Weise mit dem Abenteuer London mit jugendlichen Kindern zu verbinden, drittens hat mich mein Wochenende mit anderen Schreibenden im Schreibdorf tatsächlich wieder anders auf meine Lust am Schreiben fokussiert.“

die Schreibende: „Ist ja schon gut, ich bin dabei. Also die Reisetruppe wollten wir vorstellen.“

ich: „Genau. Es gibt einen hochgewachsenen knapp zwei Meter großen 17-jährigen, mit wuscheligen dunklen Haaren, einer Brille, einem charmanten Lächeln, der mit ausgelatschten Vans darum läuft und meistens die Airpods in den Ohren stecken hat und zudem mit einem verträumten Blick gesegnet ist. In der Reisegruppe ist er der Sohn. Hast Du noch etwas zu ergänzen?“.

die Schreibende: „Er hat braune Augen und fällt in der Rolle des stillen Beobachters eher angenehm auf, macht sich seine eigenen Gedanken, die er hin und wieder äußert und wird von vielen als attraktiv wahrgenommen. Ansonsten macht er alles am liebsten in letzter Minute, auch packen und planen.“

ich: „Dann gibt es die zwei Jahre jüngere Schwester und Tochter in der Gruppe, die auch Vans trägt, sich eher an den Bruder als an die Mutter wendet, die dunkelblonde glatte Haare und graugrünblaue Augen hat, eher sportlich daher kommt, dabei aber sehr auf ihren eigenen Kleidungsstil achtet.“

die Schreibende: „Alles in allem würde ich sie als gesprächsfreudig und aufmerksam ansehen, also schon auch noch ein gegenüber für die Mutter, für dich, die du eben die Mutter in dieser Reisegruppe bist. Einfach nur die Mutter. Die anderen sind ja auch noch Bruder und Schwester, du halt leider nur die Mutter.“

ich: „So ein Quatsch. Ich bin ja mit dir unterwegs. Wir sind schon mal zwei. Die Reisende und die Schreibende – und ja, ich bin halt auch die Mutter“.

die Schreibende: „Nein, ich finde, du bist nicht auch die Mutter, sondern dieser Umstand macht die ganze Reise zu dieser Reise, dein ganzes Reiseführergeplänkel und so. Ich finde, wir könnten das in unseren Episoden schon noch mehr einarbeiten.“

ich: „Familiendynamik, Reisen mit Jugendlichen und so? Davor habe ich mich wohlweislich gedrückt. Ich will jetzt nicht mehr nochmal alles umschreiben.“

die Schreibende: „Ach komm, das macht es doch eigentlich interessant, oder? Wer bricht wann unter welchen Umständen zusammen oder bekommt sonstige Krisen?“

ich: „Hör mal, das Ganze hat auch noch die Überschrift Urlaub, nicht Überlebenstraining. Ich glaube, da hast du was verwechselt.“

die Schreibende: „Nein, ich bin komplett im Bilde, aber Reisen mit dir haben im Allgemeinen wenig gemein mit dem, was ich unter Urlaub verstehe. Ich dachte, da wären wir uns einig.“

ich: „Schon gut, schon gut. Ich fand es halt passend, den Fokus auf das Reisen und die Begegnungen im Außen zu legen, aber wir können ja schauen, wo es sich anbietet, den Charakteren in der Gruppe ihren Auftritt zu lassen, oder wo und wie diese Gruppe Entscheidungen gefunden hat. Das ist aber echt nochmal eine ganz andere Nummer“. Ich seufze. „Jetzt will ich erst mal über unsere Begegnung mit dem Poeten erzählen“:

Wir laufen am Themse über entlang, auf der Seite des London Eye und der Tate Modern. Der Himmel ist bewölkt, es könnte bald anfangen zu regnen. Aus dem Augenwinkel sehe ich einen Mann hinter einer Schreibmaschine sitzen, die auf einem Klapptisch steht. Auf einem gemalten Schild davor steht POET TO HIRE, give what you like. Ich ziehe die Tochter am Ärmel. „Wartet“, und deute auf den Mann am Wegrand. No risk no fun, eine kurze Überwindung, der Sohn ist auch stehengeblieben, ich gehe auf den Mann zu. „What a great idea, we’d love you write a poem for us“

„Über was soll ich etwas dichten? Ihr sagt mir, was für ein Gedicht ihr wollt“.

Sofort denke ich daran, wie meine Tochter mich aufforderte. „Mama, drei Wörter, nein fünf Wörter“, wenn ich dabei war, abends ihr Zimmer zu verlassen. „Dann kann ich mir eine Geschichte erzählen, ich kann sowieso nicht einschlafen“.

Ich schaue meine Tochter an, meine Tochter schaut mich an, mein Sohn steht etwas abseits. Ich schaue in den Himmel. Clouds, sage ich. Ich schaue meine Tochter an. Zeit gewinnen über small talk. Where do you come from, how long are you visiting and so on.  

Der Dichter wohnt in einem Stadtteil im Osten. „Da wollt ihr nicht hin“, sagte er und deutet heftige Lebensumstände an.  Aber immerhin habe sein Stadtteil zwei Wolkenforscher hervorgebracht. Er war noch nie in Deutschland. Das wäre mal was, der Süden, der See, kurz hinter der Schweizer Grenze. Meine Kurzbeschreibung unseres Wohnortes. Jetzt war die Tochter soweit.

„Wie ist es eigentlich so in London zu leben?“ Ein Gedicht über das, was es ausmacht, das englische Lebensgefühl, will sie. Der Mann setzt sich an seine mechanische Schreibmaschine und seine Finger hämmern in die Tasten, die jeweils einen Buchstaben direkt auf das Papier stempeln. Rasant, die Wörter direkt graphisch gesetzt. Vermutlich schaue ich mit offenem Mund zu. Er zieht das Papier aus der Maschine und reicht es uns.

„Oh, wäre es vielleicht möglich, dass du es uns vorliest“, frage ich. Er nimmt sein Gedicht zurück und beginnt, etwas zögerlich. Dann liest er.

Keiner von uns spricht. „Wow“, bringe ich heraus. Ich habe gar nicht alles verstanden, bin aber sehr berührt. Allein schon die erste Zeile. So much of what we are is cloud

Und was sich dann alles entfaltet. Der Mann mit Glatze, randloser Brille, Vollbart und hellen Augen, er erinnert mich an das Mädchen mit den Schwefelhölzern. Ich versuche meine Anerkennung in Worte zu fassen, wie auch immer unbeholfen. Aber etwas scheint anzukommen.

„Hey, du hast ja noch nicht einmal das Gedicht signiert oder deinen Namen darauf geschrieben“, stelle ich fest.

Wieder ein schüchternes Lächeln. Mich rührt diese großzügige Geste, die fehlende Eitelkeit, sein Werk ohne Autorenschaft der Welt zu schenken, Verfasser unbekannt. Kann es ihm nur darum gehen, ein paar Pfund damit zu verdienen, ohne Notwendigkeit, dem eigenen Tun eine Größe zu verleihen? „Luke Davis“, sagt er, als er mir das Blatt zurückgibt, für den Fall, dass ich seine Schrift nicht entziffern kann. „Und bis bald dann, am See, kurz hinter der Schweizer Grenze“, sagt er beim Abschied.

Ich finde unter den Eingaben Luke Davis Poet London tatsächlich etwas heraus und zeige es der Schreibenden:

Luke has been writing poetry for 23 years with a pure flame of idiot devotion. For the last 2 years he has been sitting by the Thames at Bankside, in all seasons, and writing poems for passers-by about anything from terminal cancer to pet pugs. This has left him with an anonymous, secret body of work distributed all across the world, framed in kitchens in Tasmania and bedrooms in Tennessee, poems dedicated to Brads and Bretts and Calebs, and hundreds and hundreds of lovers everywhere. This provides a healthy counterbalance to his own personal work which is typically of a perversely recondite and involved nature (although initiates will no doubt recognise the psychedelic influence and intent).

https://www.breakingconvention.co.uk/speaker-LukeDavis.html

die Schreibende: „Krasse Haltung. Die ringt mir echt Respekt ab. Doch nicht das naive Mädchen mit den Schwefelhölzern, sondern eine bewusste Entscheidung, die eigene Arbeit als ein anonymes geheimes Werk in der Welt zu verteilen“, stellt die Schreibende fest.

Unter dem Eintrag, der der ihn als Sprecher bei der BREAKING CONVENTION 2023 vorstellt, finde ich noch eine unauffällig gehaltene webside der POETS FOR HIRE, PAY WHAT YOU LIKE, von ihm und seinem Kollegen: https://wordtrade.co.uk/

Und trotzdem, es fühlt sich nach dem Gegenteil an von dem, was die allermeisten Menschen tun: statt sich selbst darzustellen und feiern zu lassen, sich in den Dienst zu stellen und zu verschenken – selbst wenn es das PAY WHAT YOU LIKE gibt.

„Ich muss da nochmal drüber nachdenken“, sage ich.

Die Reisende 2

Gerade bin ich heimgekehrt und habe gestaunt, wie schon nach einem verlängerten Wochenende unterwegs der Herbst noch mehr in die oktobergoldenen Linden eingezogen ist. Die Schreibende hat mich an unser Projekt erinnert und einen vorwurfsvollen Blick auf den Kalender geworfen. Schon gut, sage ich. Wir sind über die zweite Episode gegangen. 

2

Der Stadtplan aus London. Ich hänge ihn über die Spüle. Das, was vor der Reise in Reiseführern aussah wie der Mond, wie eine nicht zu fassende Fremde, die mich in ihrer Fülle erschlägt, hier an der Wand in der Küche, spricht der Stadtplan zu mir, erzählt mir von unseren Schritten, die wir zurückgelegt haben. Der River Thames liegt hellbau wie ein Stück Faden auf der unteren Hälfte. Er hat mich vor dem Ertrinken gerettet, Orientierung geschenkt. Die kleinen Straßen sind weiß eingezeichnet, die größeren gelb und die ganz großen orange.

Zuvor hat mir der Reiseführer die betörenden Reize ins Ohr geflüstert: Die Themse, unbedingt die Themse, die Towerbridge, der London Tower, Big Ben, Soho, Mayfair, St Giles, Bloomsbury, Westminster, Worte, die sich sperrig auftürmten, zwar irgendwie verheißungsvoll, doch das Fassungsvermögen meines Kopfes sprengten. Wie sollen wir denn jetzt London angehen? Wie bloß?

Ich suchte nach dem London, dass ich kannte aus Erzählungen, suchte nach vertrauten Namen. Mit fielen auf die Schnelle gerade mal Charles Dickens und die Brontë Schwestern ein, nicht gerade in London beheimatet, suchte nach strukturierenden Größen, es gab ein viktorianisches Zeitalter und die gregorianische Architektur, aber es half nicht. Ich fand etwas Trost bei Harry Potter und Kings Cross. Aber alles in allem blieb es eine große, mich erschlagende Schöne.  Einen spärlichen Tag würden wir dort verbringen und ich fühlte mich verloren.

Dabei war ich schon einmal ein verlängertes Wochenende in London. Ich erinnerte mich an WG-Zimmer, daran, dass ich hinten auf einem Mofa saß bei einem Mann, der mich quer durch die Stadt zum Tanzstudio fuhr, daran, dass ich mit einem anderen im Bett lag, einem, den ich toll fand, der aber vergeben war und daran, dass ich eigentlich ein Auswahlwochenende für eine Ausbildung in Body-Mind Centering machte. London? Ein Ort des Geschehens, weiter nichts.

Wir steigen aus dem Eurostar aus und laufen mit unseren großen Rucksäcken durch die dunkle Stadt von Kings Cross nach Soho, um in unserer ersten Übernachtungsgelegenheit anzukommen. Was ist schon eine dreiviertel Stunde, wenn wir die ersten Eindrücke aufsaugen können wie Löschpapier. Weil ich es gar nicht blicke, aus welcher Richtung die Autos an den großen Kreuzungen denn jetzt kommen, stolpere ich schnell über die Straßen. Mögen die Autofahrer nachsichtig sein, lautet mein neues Mantra.

Ich habe eine Herberge ausgewählt zu der uns eine schmale Treppe in ein Inneres nach oben führt. Ein junger Mann empfängt uns in einer einladenden Lobby, vertraut, als wären wir gute Freunde.
„Was sollen wir denn jetzt machen, Morgen, in London?“ platze ich heraus, denn alle vorausgeschmiedeten Pläne haben sich aufgelöst in der nächtlichen Dunkelheit.

Er faltet einen Stadtplan auf, nimmt einen pinken Marker und beginnt.
„Hier ist Soho, hier sind wir“, er malt ein Kreuz mit einem Kreis darum herum. „Wenn meine Freunde oder meine Familie kommt, dann empfehle ich immer, hier in den Park St James zu laufen, da ist es wunderschön und ruhig, der schönste Park überhaupt, dann hier Buckingham Palace“, den malt er rosa aus. Seine Stimme und seine Bewegungen sind so liebevoll und fürsorglich, dazu noch rotblonde Haare und einen drei Tage Vollbart. Er erinnert mich an meine schwulen Freunde und ich bin ihm jetzt schon dankbar, dass er uns an die Hand nimmt. „Regierungsviertel, Westminster Abbey, Big Ben, über die Brücke, London Eye ist langweilig, aber an der Themse könnt ihr entlang spazieren, da seht ihr alles“ und er malt das ganze Themseufer pink. „Da ist die Tate Modern, dahinter ist auch noch ein cooles neues Viertel, bis zur Tower Bridge und dem Tower of London könnt ihr laufen. Mein Favorit ist zweifellos St Pauls Cathedral“, die wird auch noch Pink angemalt. „Das Viertel könnt ihr noch anhängen“, ein schwungvoller pinker Kringel, und Spitalfields wird auch noch umkringelt.

„Genau, wir machen dann direkt noch eine Nachtwanderung“, sage ich lachend und bin froh, dass wir den Plan mitnehmen dürfen, auf dem auch der Berg dreimal schwungvoll umkreist wird im Norden, wenn wir einen Überblick bekommen wollen. „Aber den bekommt ihr auch in der neuen Tate Modern, wenn ihr ganz nach oben fahrt“. Wir können direkt von hier aus loslaufen. Alles easy.

Ich erinnere mich an meinen ersten Schüleraustausch in Dublin, ich bin in der siebten Klasse und Dublin ist die Partnerstadt von Frankfurt. Ich fotografiere alles, weil mich alles fasziniert, die Telefonzellen, die Briefkästen, die Doppeldeckerbusse, die Hydranten, die Parkbänke, ich komme einfach aus dem Staunen nicht heraus. Ich erinnere mich an den Moment, an dem die Fremde noch fremd ist, an eine Begeisterung, die durch die Nase einströmt, wie der Atem, an einen Blick, der noch Außen vor ist, der an den Fassaden hängen bleibt, der heute etwas wahrnehmen kann, was morgen schon nicht mehr besonders ist.

Ich erinnere mich an Familienreisen: Meine Mutter mit dem Baedeker, ihrem Lieblingsreiseführer, die Brille absetzt, um besser lesen zu können, mein Vater, der zielsicher jede Kirche ansteuert. Ich, eines von zwei Kindern, halbwegs gelangweilt. Besichtigen, nachlesen, erkunden, vertiefen, sich führen lassen, Geschichte begreifen, was sollte das eigentlich? Als Jugendliche unterstellte ich dieser Art der Annäherung, dass meinen Eltern sich das Wesentliche genau darin nicht offenbarte. Kopflastig und bildungshungrig fand ich das, zumal die Geschichtsschreibung mir eine Welt erklärte, die für meinen Geschmack nie zum Wesentlichen vordrang.

Was war eigentlich mit mir los, dass ich zu Reiseführern griff? Oder sollte ich mich wundern, was los war in all den Jahren, in denen ich in allen Städten dieser Welt einfach Freunde besuchte ohne jeglichen Sightseeing Impuls, das ganze Touristen Programm war überhaupt unter meinem Niveau. Wer gab sich denn mit so etwas ab? War ich wieder zur profanen Touristin mutiert, kurz davor, in Sightseeing Busse einzusteigen?

Planvoll und planlos ziehen wir am nächsten Morgen los. Es ist noch früh, es verspricht ein trockener, zumeist sonniger Tag zu werden, die Stadt erwacht mit uns, die wir einfach laufen und schauen, die grobe Richtung stimmt, Süden, der Fluss, wir streifen die Highlights, sind mit Grundbedürfnissen beschäftigt, wo finden wir etwas zu frühstücken?  Beim Frühstücken schauen wir zu, wie die Fahrradfahrer ihre Räder mit zwei dicken Schlössern abschließen. Ich freue mich an den vielen Brompton Fahrrad fahrenden, die ich entdecke, dieses aus England stammende Faltrad schlechthin, das es auch bis zu uns geschafft hat. Ich staune, wieviel Bewegung, Vibration, Vitalität, Jugendlichkeit, Farbigkeit, Überlebenskreativität mir an allen Ecken und Enden entgegen schwappt.

Plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich auf Entzug gewesen: auf Großstadt Entzug, auf Reise Entzug, auf Lebenshunger Entzug.

Im Vergleich zu London lebe ich in einem Sanatorium, einem Ort der Ruhe und Heilung, an einem See mit langen Uferpromenaden und unbekümmerten Schwanenfamilien, die lediglich entschieden ihre Jungen verteidigen, wenn spielfreudige Hunde auf sie zuschwimmen. Und dann der ganze Pandemie bedingte Rückzug, mit und ohne Entzugserscheinungen. Das Hinaus aus dem real nicht mehr existierenden sozialen und kulturellen Leben, weil Hinein plötzlich bedeutete zu riskieren, sich oder andere anzustecken. Im Ausklingen spüre ich den Nachwehen nach.

„Sag mal“, sagt die Schreibende, „sollten wir nicht mal sagen wer WIR sind auf dieser Reise?“

„Meinst du, das ist von Bedeutung?“

„Finde ich schon“

„Also gut, ja, machen wir. Als Einstieg in die nächste Episode“.

Die Reisende

Es regnet und die ersten Lindenblätter färben sich gelb. Hier wird es zumutbar herbstlich.

In dieser Stimmung haben die Schreibende und ich uns zusammengetan und nicht nur dem Regen gelauscht. In unserem Coworking Prozess haben wir uns zurückerinnert. An das Ankommen. Das Heimkehren. Und das Vorausplanen. Das noch nicht wegegekommen Sein. Und so umkreisen wir unsere Reise im Danach und Davor, stellen Fragen nach dem Wie und Warum des unterwegs Seins.  Herausgekommen sind 6 Episoden rund um die erste Englandreise, die wir jetzt wöchentlich in den Blog stellen. (Öffentlich verkündete Vorhaben erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Umsetzung)

1

Nach zwei verpassten Zügen wegen Verspätung kommen wir also doch wieder zu Hause an. Es kommt mir vor wie ein Wunder. Am Morgen uns aus dem kleinen Hotelzimmer im Kings Cross Inn geschält und die Straße überquert zum Abfahrtsterminal des Eurostars in St Pancras und am Abend laufen wir trotz aller Verspätungen noch in der Abenddämmerung zurück ins Paradies, das mir so unwirklich vorkommt.

Um anzukommen muss ich direkt anfangen auszupacken, als gäbe es kein Ankommen ohne Auspacken für mich. Als gäbe es kein zu Hause ohne diese nach der Reise Stillleben. Dann ist es bald soweit, die Wäscheberge türmen sich vor der Waschmaschine. In den Kleidern stecken noch die Gerüche der Reise. In den Stadtplänen und Ausstellungsflyern entfalten sich die zurückgelegten Wege.

Der Schweiß unserer Fahrradtour steckt zum Beispiel in dem kaffeebraunblau gestreiften Oberteil, dass so eng am Körper klebte. Wir leihen unsere Fahrräder bei Steve in Penzance, ein kräftiger bärtiger Mann, dessen Frau uns die Tür öffnet und uns durch einen kleinen Flur eine Treppe hinunter in einen Hinterhof mit Garage führt. Zur Straßenfront in großen Fenstermansarden ist noch der Frühstückstisch für die Bed and Breakfast Gäste gedeckt. Einladend sieht es aus. Steve schaut uns an und holt seine größten Fahrräder, allesamt neue Ware, auf die er monatelang gewartet hat. Ja, sagt er, es ist schön, dass die internationalen Gäste wieder kommen, jetzt wo die Engländer die Insel wieder verlassen. Er hofft, sie kommen schnell genug, auch wenn der Staat die Menschen, die vom Tourismus leben zunächst gut unterstützt hat, kämpfen alle mit den Nachwehen der Pandemie.

Steve erklärt uns den Weg: Nach Mousehole können wir an der Strandpromenade entlangfahren, dann geht es den Berg steil nach oben, so steil, dass es egal ist, ob wir schieben oder laufen, wir sind genauso langsam oder schnell, dann geht der Weg um die Kurve bis aus dem Nichts eine Thai Takeaway am Straßenrand auftaucht. Wir können uns an den Fahrradschildern mit der Nummer 3 darauf orientieren. Wenn wir wollen, dann führt uns der Weg bis nach Lands End auf unbefahrenen Straßen, auf denen uns allenfalls ein Bus überholt. Und an den Merry Maidens kommen wir noch vorbei, da müssen wir nach links schauen, über das zweite Gatter können wir klettern, um den keltischen Steinkreis aus der Nähe zu betrachten. Steve malt uns die ganze Route auf einer Karte auf. Lamorna Cove ist ein alter Steinbruch, beantwortet er meine Nachfrage, aber da geht es nochmal steil runter. Nach Steves Wegbeschreibung sehe ich uns am Ende der Promenade gemütlich Kaffee trinken. Aber wir radeln und radeln, vorbei am Thai Take Away, das aus dem Nichts auftaucht, auf Straßen, die verwunschen, zugewachsen, überdacht von den Bäumen uns in ein anderes Reich versetzen. An der Lamorna Cove fragen wir zwei Männer nach einem passenden Inbusschlüssel, die vor einem Café stehen, weil ein Sattel doch zu niedrig ist. Der Ältere fragt uns etwas, der Jüngere lacht und sagt, sprich Englisch, selbst er verstehe sein Kornisch nicht, sagt er an uns gewandt. Entweder wir machen den Sattel höher oder die Beine kürzer, sagt der ältere Mann, diesmal auf Englisch. Ja, genau, dass sind die beiden Möglichkeiten, da ist er wieder, der britische Humor. Der passende Inbusschlüssel findet sich, wir sollen ihn doch mitnehmen, man wisse nie.

Lands End. Da also radeln wir hin, da wo das Land endet und das unendliche Meer den Blick bis nach Kanada frei lässt. Lands End ist das englische Finisterre und bis an dieses Ende der Welt radeln wir jetzt. Die Merry Maidens stehen unschuldig auf dem Feld und ein Hund umkreist sie freudig bellend, als wäre es sein Ort, an dem er seine Zeremonie abhält. Die Hundebesitzerin erzählt, dass es genau 19 Steine sind, obwohl es mal 18 waren und dass die kleineren und die größeren Steine für unterschiedliche Mondphasen stünden. Ich schreite die Steine von Innen und Außen ab und stelle mich in die Mitte. Die Kraft der Steine, dieses alten Ritualplatzes, ich spüre sie. An Lands End umrunden wir die vorangelagerten touristischen Spiel Spaß und Spannung Attraktionen und schauen auf die Felsen und den Leuchtturm, lassen uns den Wind um die Nase blasen und laufen nach Süden, vorbei an einem Streichelzoo und einem craft shop. Der als Pirat verkleidete Silberschmuckverkäufer kommt mit uns ins Gespräch. Er erzähle den Kindern immer Geschichten, er sei der Geschichtenerzähler schlechthin und manchmal könnten die Kinder dann nachts nicht mehr schlafen. Das glaube ich sofort, da er die Aura eines Piraten hat, eines Mannes, der schon einiges an Leben hinter sich hat, darin aber auch viel Weisheit angesammelt. Wenn wir weiterlaufen, kommen wir an den Felsen, der aussieht wie ein im Meer trinkender Elefant und an weitere Steine aus der keltischen Zeit. Das sollen wir doch machen, noch etwas die Felsen erkunden und unsere Räder hier stehen lassen.

Vielleicht heißt in der Fremde sein, mir erzählen lassen, was ich zu tun habe, von Menschen, die mir aufmalen und sagen, was es zu entdecken gibt. Vielleicht sind es meine nicht gebuchten Fremdenführer, die mich an die Hand nehmen und mir die Augen öffnen mit ihren persönlichen Geschichten. Vielleicht ist es meine Neugier, die sie einlädt, mich an die Hand zu nehmen.

Das alles steckt als Schweiß in dem T-shirt, dass da vor der Waschmaschine liegt.

Da liegt auch das Badezeug, in dem noch das Meerwasser klebt, salzig, voller Algen aus dem Whitesand Bay in Sennencove und Porth Nanven und Portheras Cove, die Buchten, die wir uns auf unseren verschiedenen Touren erwandert haben. Das Meer, das mich so fasziniert und einschüchtert. Wenn ich in die zurücklaufende Strömung schaue, stelle ich mir vor, sie ist wie ein Staubsauger, der mich einsaugt und mitnimmt und weit draußen wieder ausspuckt. Diese Wucht, wenn die Brandung zweier Wellen gegeneinanderschlägt. Ich kreische vor Angst, Freude und Kälte, bleibe da, wo die Brandung am unangenehmsten werden kann, aber ich mich trotzdem sicher fühle.

Mein manischer Vollzug des Ankommens, der eine nicht vorhandene Energie freisetzt, beinhaltet dieses Mal, dass ich alle Stadt und Faltpläne mit Tesakrepp versehe und an unsere jungfräulich frisch gestrichene Küchenwand pinne. Ich bin entzückt, wie sie sich sowohl farblich, als auch von den graphischen Formen zu einer perfekten Küchenwandgestaltung zusammen puzzeln, als hätten sie einzig auf diesen Moment gewartet, in meiner Konstanzer Altbauküche kuratiert zu werden und ihre ganze Größe als Kunstwerke zu entfalten.

Die Schreibende und ich 10

Es regnet. Ich höre den Regen. Und den Donner. Und ein Auto, dass durch die Pfützen fährt.

Es ist September und der letzte Blogeintrag war im Mai. Die Blitze zucken durch die Dunkelheit. Die Balkontüre schlägt zu. Ich habe vergessen, sie zuzumachen und es hat reingeregnet. Ich wische den Holzboden trocken und lege den Teppich nach oben zum Trocknen. Wo ist eigentlich die Schreibende?

Ich: Hey, Schreibende, wo treibst Du Dich den herum?

Die Schreibende: Ich treibe mich nicht herum. Da Du mich in diesem Jahr schon zweimal mit nach England genommen hast, einmal davon sogar bis nach Schottland, wir zudem in Griechenland und über Meer und Land durch Italien und die Schweiz mit Zwischenstopp in den Tessiner Bergen unterwegs waren, sinniere ich über das Reisen nach. Ja, ich schreibe einen Essay über die Reisende 1-10.

Ich: Aha.

Die Schreibende: Was, Aha.

Ich: Meinst Du denn, da könnte etwas für den Blog dabei sein. Es ist schon ewig her, dass ich etwas in den Blog hineingeschrieben habe.

Die Schreibende: Ha, mein Schreiben soll für Deinen Blog funktionalisiert werden.

Ich: So ein Blödsinn, ich wollte einfach anknüpfen an mein Vorhaben, einmal im Monat etwas in den Blog zu schreiben. Und Du weißt doch, dass ich Deine Texte und Gedanken da gern einbaue.

Die Schreibende zögert etwas.

Die Schreibende: Ich habe ein Tagebuch angefangen, von einer, die sich in den Wind setzt. Ich weiß aber nicht, ob Du etwas damit anfangen kannst.

Ich: Werden wir dann sehen. Lies doch mal vor.

Die Schreibende holt ihren Laptop hervor, fährt ihn hoch und beginnt zu lesen:

3

Ich mache nichts, als dem Wind zuzuhören, der mir hier auf dem Agga nördlich von Pyrgos in der Nähe des Dorfes Skourochori, unablässig ins Ohr raunt. Wind, vor allem Wind, der die Zweige des Eukalyptusbaumes schaukeln lässt und mich bespielt, weil ich ihm Widerstand schenke. Auch mein Rock flattert, obwohl das Laptop auf meinen Oberschenkeln liegt. Ich kann nur noch den Wind spüren, der neu Atem holt, um wieder kräftig zu blasen, Luftströme vor sich herschiebt. Liebkosung, Massage, gemeinsamer Tanz oder Qual?

4

Ohne den Wind, wäre es unangenehm warm.

Die Eukalyptusblätter liegen durcheinandergeweht braun am Boden und sehen in ihrer länglichen Form wie gestrandete Schiffe aus. Ein Wesen schnauft. Eine Türe knarrt. Das Zwitschern der Vögel klingt nicht mehr als ein hintergründiges Murmeln. Der Wind spielt die erste Geige in den Saiten, die er anstimmt.  Kann ich die Melodie hören, die in den hängenden Blättern vielstimmig zugegen sind? Welches Lied spielt er auf meinem Körper?

Er klingt in meinen Haaren. Ein klarer Zug, ein Pfeifen, ein tiefer Ton.  Tiefer in jedem Fall als das Rascheln in den Blättern, die aneinander sich berauschen.

Wenn es zum Crescendo kommt, hat die knarrende Türe ihren Einsatz. Es bleibt mein tönend flatterndes Haar, wenn das Decrescendo schon eingesetzt hat.

5

Ich sitze wieder im Wind. Was würde ich nur ohne den Wind machen?  Dann wäre die Wärme eine Hitze. Unerträglich. So ist es bewegt in der Ruhe. Ich schaue einem Leichenschmaus zu, wobei die Leiche von den Schmausenden so besetzt ist, dass sie unkenntlich geworden ist. „Die Natur räumt auf“, sagt S, ich lasse ich sie aufräumen. Ein schwarzer Haufen großer Ameisen auf der Schwelle meines Hauses.

6

Der Wind kommt von vorne. Beharrlich. Eine Winddusche. Eine ständige Erinnerung. Mein Sein im Wind macht Musik. Ich werde bespielt. Heute klingt das Flattern meiner Haare etwas mehr nach A als nach G. Das Pfeifen entlang meiner Ohren. Über mir das Rauschen in den Zweigen des Eukalyptus. Ein sanftes rascheln der Blätter. In der Ferne der Wassersprenkler in seinem einem Metronom gleichenden Rhythmus, dann Pause und Richtungswechsel. Auftakt.

7

Ich sitze im Wind und finde es müßig weiter darüber nachzudenken. Der Wind hat mein Gehirn leer geblasen.

8

Ich sitze im Windschatten.  Die Brisen, die mich erreichen, zerren und ziehen nicht an mir. Ich entziehe mich, lass mich nicht auf Herz und Nieren prüfen, nicht als Widerstand bemessen. Hier an diesem Platz nicht.

9

Die Luft wärmt sich auf. Der Wind streicht sanft um meinen Körper. Im warmen Wind, der die erhitze Luft zum Strömen bringt, bleibe ich.

Was passiert mit dem Wind, wenn er auf keinen Widerstand mehr trifft? Welche Geschwindigkeit nimmt er auf und entwickelt er zerstörerische Kräfte?

10

Ich sitze ohne Wind
im Windstillen und schwitze.

11

Nur dem Wind lauschen. Lauschen und lauschen.

Ich schweige.

Die Schreibende: Hab ich’s doch gewusst.

Ich: Was?

Die Schreibende: Dass Dir dazu nichts mehr einfällt.

Ich: Originelle Idee.
Aber meinst Du nicht, es wäre interessanter, etwas mehr über die Person, die im Wind sitzt zu erfahren?

Die Schreibende: Aber darum geht es doch gerade, dass die Person sich einfach nur in den Wind setzt. Also nichts zu erzählen, außer einer, die sich in den Wind setzt.  

Ich: Ja gut. Ich persönlich fände es jetzt interessanter, wenn der Wind der rote Faden wäre und die, die sich in den Wind setzt, noch eine Geschichte erzählt oder irgendetwas erlebt.

Die Schreibende: Immer muss etwas passieren. Lass sie doch einfach da im Wind sitzen. Unerträglich lange einfach im Wind sitzen.

Ich: Liebkosung, gemeinsamer Tanz oder Qual, wie war das?

Die Schreibende: Genau.

Ich frage mich, ob es eine gute Idee war, die Schreibende miteinzubeziehen. Aber ja, unsere Reisen. Vielleicht sollte ich auch über unsere Reisen schreiben. Geschichten erzählen von Begegnungen. Aber für heute lausche ich dem Regen, der endlich fällt.

(m)ein Glück teilen

Ein Post-it klebt noch in der Ecke des Raumes. Mein Glück teilen steht darauf, um das m ist eine Klammer, also auch ein Glück teilen. Es war gestern Abend erst, dass eine weitere Gruppe intuitives Schreiben mit heilsamen Nebenwirkungen gestartet ist. Anstöße und Anlässe habe ich die Gruppe genannt. Mit der Aufgabe, schreibt vier Post-its zu Was gab den Anstoß? und klebt sie irgendwo in den Raum, steigen wir ein. Das gerade mein Post-it hängen geblieben ist.

Glück.

Ich erinnere mich, wie ich schon als 18-jährige über das Glück philosophierte in den Briefen, die ich an den Freund in Liberia schrieb. Es ist ein Glück, im Dorf zu sitzen, während die Blitze das Schwarz der Nacht durchzucken, wie diese Briefe Grundlage für mein Schreiben wurden, um den früh Verstorbenen noch weiterleben zu lassen. Ich erinnere mich an meine Visionen, wie ich aus seinen Briefen eine Performance kreiere. In einem Stadium dieses Vorhabens philosophierte ich über das Briefe schreiben: JEDER BRIEF IST EIN GEHEIMNIS.

Szenische Lesung nenne ich jetzt die Form, die meine Vision gefunden hat. Eine veröffentlichte Erzählung, die ich in einer Lesungsdramaturgie aufführe. Ich lese und ich bin die 18-jährige von damals, die in meiner Erzählung Johanna heißt. Ich spüre ihren jugendlichen Überschwang, Übermut trifft es vielleicht noch besser und lasse ihrem überbordenden intensiven Innenleben auf dem Papier freien Lauf, schenke ihr rückhaltloses Begehren, dass ihrer poetischen Lust Flügel verleiht: …beschreibe mich längs lang die Rückseite meiner Oberschenkel hinauf / verirre dich im Dickicht meiner Schamhaare, lasse sie in den Stürmen des Begehrt Werdens schwanken, überlasse sie ihrem körperlichen Begehren, dass sich nicht an ihr Drehbuch hält, lasse sie abstürzen, verzweifeln, Wunden lecken, trotz ihrer Versuche sich zu schützen gibt es keinen doppelten Boden und folge ihr, wenn sie aufbricht zu ihrer Liebe und zu ihrer Angst zu stehen, wenn sie wie ein Schwann die afrikanische Welt aufsaugt. Mehr als ein Vierteljahrhundert ist vergangen von dem vagen Bedürfnis, etwas mit diesen Briefen anzufangen bis zu der verdichteten Form. Ich erlebe es als großes Glück, meine Leidenschaft als Schreibende, als Lesende, als Inszenierende und als Performende auszuleben.

Ich erinnere mich an die letzte Lesung in Waldstatt, bei der ich in einem alten Appenzeller Haus plötzlich mitten in Afrika bin, erinnere mich an das gemalte Bergmassiv in meinem Rücken und das große Gemälde der Frau, die auch aus den Anden kommen könnte, die mir zur Seite steht. Nach den Rückmeldungen denke ich, dass erfüllte und unerfüllte Sehnsucht und die ersten Male unbeholfenen Liebens auch die 80-jährige Zuhörerin wieder in die Jugendliche verwandelt haben, die sie einmal war, dass jede erzählte Geschichte sich mit den brach liegenden Erinnerungen aller Zuhörenden verbindet, die einen Moment lang eine unausgesprochene geteilte Erfahrung werden.

Die sehnsuchtsvoll im verborgen Liebende, die von den Lavaströmen der Leidenschaft überrollt wird, das war vielleicht mein unbemerkt allumfassendes Glück des Aufbruchs.

Mein Glück teilen als einen Raum, in dem Menschen ihre Puzzlestücke ausbreiten können, die sie schreibend finden. Mir klingen noch die Stimmen der Lesenden meiner gestrigen Gruppe nach und ich erinnerte mich schreibend an die Stimme eines Studienfreundes, der in mich verliebt war. Sie klang wie ein tiefer Fluss, der unaufhörlich über etwas plätschert, an etwas reibt.

All diese gelesenen Worte, sie schmecken wie frisch gepflückte Erdbeeren, unschuldig, rot und süß, taumeln wie frisch geschlüpfte Küken, verletzlich und bereit zu fliegen, verströmen ihren Duft nach Zimt und Koriander, wie frisch zubereitetes Essen, ich kann mich nicht entziehen. Mein Glück teilen als eine Offenbarung, dass ich immer wieder neu staune, was in wenigen Minuten Schreibzeit entsteht, was groß ist, wenn ich es lasse, was etwas in mir anstößt, wenn ich es lasse. Mein Glück teilen, dass mir schreibend widerfährt, wenn ich der selbst gestellten Aufgabe folge:

Beschreibt einen beliebigen Moment, einen beliebigen Sinneseindruck und folgt mit dem Stift in der Hand der Spur in die Schatzkiste der Erinnerungen.

vom 06.05.2022

Die Schreibende und ich 9

Narrative, Paradigmen, Ideologien und Mythen

Ich: Sag mal, neulich, haben wir uns da nicht über Narrative unterhalten?

die Schreibende: Nein, ich habe geschrieben und Du wolltest mir ein Gespräch aufzwingen.

Ich: Ja, stimmt, ich erinnere mich dunkel. Ich bin innerlich bei meinem Hang zum Tröstlichen gelandet, das war auch nicht schlecht. Aber sag mal, hast Du nicht währenddessen über Narrative und Mythen einen Text geschrieben?

die Schreibende: Hab‘ ich nicht weiterverfolgt.

Ich: Glaube ich Dir nicht. Wenn Du einmal etwas angefangen hast, dann bleibst Du doch immer dabei, im Gegensatz zu mir.

die Schreibende:  Also gut.

Wusstest Du, dass unser ganzes Leben durchsetzt ist von verborgenen Ideologien und Narrativen, die Quasi als Rahmenerzählung funktionieren und in unserem Unbewussten wirken und ebenso unbewusst die Grundlage bilden, auf der wir unsere Handlungen abwägen?  Sie geben quasi den Boden vor, auf dem wir die Rollen entwickeln, die wir in unserem Leben spielen.

Ich: Also die Psychologin in mir würde sagen, dass sind die Stories, die ich mir über mich selbst erzähle. Auch ein trendiges Wort ist das mind-set, das mich bestimmt. Oder wir haben früher einfach gesagt, die Glaubenssätze. Wenn ich das von der kognitiven Ebene auf die physiologische Ebene übersetze, würde ich sagen, es sind unsere neuronalen Strukturen, die unser autonomes Nervensystem steuern.

Die Schreibende: Einfach zuhören ist nicht so Dein Ding, was? Sollen wir dieses Gespräch als Diskurs führen und eine intellektuelle Debatte daraus machen, welche Narrative in der Postmoderne die Metaerzählungen der Moderne abgelöst haben? Oder welche Wörter in welchem Beruf benutzt werden, um das gleiche zu beschreiben? Dass es jetzt mindsets statt Glaubenssätzen gibt und Frames und Narrative, nebst den Stories.

Ich: Du inspirierst mich einfach zu sehr mit Deinen Gedanken. Du erzählst mir, wie jeder in einer von seinem Mikronarrativ bestimmten Welt lebt, die oftmals gar nicht dem Bewusstsein zugänglich ist. Das ist doch absolut faszinierend.

die Schreibende: Ja, vielleicht für die Psychologin in Dir. Mich interessieren aber vielmehr unsere kulturellen Ideologien und Paradigmen, weil die gewissermaßen den Horizont unseres Denkens bestimmen. Also nehmen wir an, wir leben in einer Zeit, in der das Wissenschaftsparadigma dominiert. Dann ist alles von Interesse und handlungsleitend, was mit den Methoden unserer Wissenschaft nachgewiesen werden kann. 

Ich: Das ist ja nicht das Schlechteste, dann können keine religiösen Ideologien das Maß aller Dinge werden.

die Schreibende: Schon und gleichzeitig reduziert sich unsere Welt auf Zahlen, Daten und Fakten, die Kontrolle suggerieren, wo es keine Kontrolle gibt.

Ich: Wieso? Ich versuche als Wissenschaftlerin doch einfach über meine persönlichen Beobachtungen hinaus, die ja wie von Dir gesagt, durch mein Mikronarrativ bestimmt werden, eine Erkenntnis zu gewinnen, die auf einer objektiven Datenbasis beruht.

die Schreibende: Da lieferst Du ja wieder das Schlüsselwort, das Teil des Wissenschaftsparadigmas ist. Objektiv. Es wird eine beobachterunabhängige Realität unterstellt, die valide, reliabel und objektiv erfasst werden kann.

Ich: Dito.

die Schreibende: Aber merkst Du denn nicht, dass das der blinde Fleck ist.

Ich: Nö.

die Schreibende: Also sagen wir mal so. Die Schlussfolgerungen der Hunde wären andere, als die der Menschen, da sie andere Sinnesorgane und andere Messinstrumente haben.

Ich: Heißt was?

die Schreibende: Das, was in den wissenschaftlichen Fokus gerät, ist von den Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit gesteuert und zudem interessengeleitet und schon deshalb nicht objektiv – wie gesagt, unbewusste Mikronarrative.

Ich: Und was heißt das für Dich?

Ein Freund hat mir zwar vorgeworfen, ich wolle immer sofort wissen, was er für Schlussfolgerungen aus Erkenntnissen zieht, er ziehe aber gar nicht sofort Schlussfolgerungen aus seinen weitreichenden Erkenntnissen, aber es interessiert mich trotzdem.

die Schreibende: Jede Schlussfolgerung bei mir ist vorläufig, eine Momentaufnahme, die sich mit veränderten Erfahrungen und Erkenntnissen wandelt.  

Ich: Hört sich eher nach mir an. Bloß nicht festlegen, mich bloß nicht angreifbar machen.

die Schreibende: Das Gegenteil ist der Fall. Weil ich mir erlaube, mich zu entwickeln und mich zu wandeln, kann ich zu dem stehen, was heute für mich richtig ist.

Ich: Auch gut. Was ist heute für Dich richtig?

die Schreibende: Für mich ist heute richtig, dass ich die Welt von dem Wissenschaftsparadigma dominiert wahrnehme, in dem alles nicht mit den Messinstrumenten dieser Wissenschaft nachweisbare schlicht und ergreifend nicht von Interesse und damit nicht existent ist, oder okkulten, esoterischen, parapsychologischen Sphären zugeordnet wird. Allenfalls die Quantenphysiker oder auch die Parapsychologen, die sich den wissenschaftlichen Messinstrumenten zugewendet haben, finden Beachtung. Aber gerade am Beispiel der Quantenphysik wird deutlich, dass sich die komplexen Sachverhalte nur anspruchsvoll in unsere wissenschaftlich-sprachliche Welt übersetzen lassen. Deshalb findet sie auch nur begrenzt Einfluss in das gesellschaftlich geteilte Wissenschaftsparadigma. Schamanen in anderen Kulturen gehen zum Beispiel von Erfahrungen und Wissensbereichen jenseits von Raum und Zeit aus.

Ich: Wow, jetzt holst du aber weit aus.

die Schreibende: Also für mich ist richtig, sich jenseits des vordergründig Naheliegenden für eine ganzheitliche Sicht zu öffnen, die auch die Ahnen und das Wissen aus den Zwischenreichen, aus Zuständen zwischen Sein und Nicht Sein einlädt. Oder wenigstens den Menschen zuhört, die es zur Verfügung stellen. Dazu gehört für mich auch, den Mirkokosmos nie getrennt vom Makrokosmus zu begreifen, den Menschen nie außerhalb der Natur zu sehen, die ihm Leben ermöglicht, und auch Gesundheit und Krankheit als Zustände zu begreifen, die sich nur scheinbar auf einen einzelnen Menschen beziehen, aber in Wirklichkeit immer im Mensch-Natur Kontext betrachtet werden müssen. Dann ergeben sich auch andere Schlussfolgerungen. Dann erkranken zum Beispiel während einer Pandemie nicht einzelne Menschen, sondern in Einzelnen spiegelt sich, wie Mikro- und Makrokosmos aus der Balance geraten sind. Und daran würde sich die Frage anschließen, was Balance ist, und wie sie wieder herzustellen wäre. Also der komplette Fokus wäre ein anderer. Während bei der Pandemiebekämpfung der Fokus auf der Verlängerung von Lebenszeit einzelner Menschen liegt, auf der Erleichterung von Krankheitsverläufen und der Entlastung von Intensivmedizin, wäre der Fokus einer, wie die Menschen eine sich rasch verbreitende Viruserkrankung mit teils tödlichen Verläufen nutzen könnten, um sich geeignete Fragen nach einem nötigen Wandel auf einer tiefer liegenden Ebene zu stellen, wo Ansatzpunkte von Heilung sein könnten. Und Heilung geht immer Zerstörung voraus, Wandlung beinhaltet, dass der Status Quo aufgegeben werden muss.  Und Heilung braucht den Blick nach Innen, weil Mikro- und Makrokosmos im Inneren verwoben sind.

Ich: Hast Du Dich schon als Vortragende auf Kongressen für ganzheitliche Weltbetrachtung beworben?

die Schreibende: Ach, es ist einfach unglaublich schwierig, das zu formulieren. Es hat etwas mit Ausrichtung, Intention, Haltung, Bewusstsein, Verbundenheit zu tun. Und es hat etwas mit Bescheidenheit, sich einfügen in ein großes Ganzes, mit Demut zu tun. Also die Veränderung im Äußeren folgt der Veränderung im Inneren.

Für mich ist richtig, dass da viel mehr ist, als wir ahnen und das wir gut daran tun, jede und jeder, dass uns mögliche zu tun, um wacher, empfänglicher und ausgerichteter zu werden.

Ich: Das war ja jetzt eine richtige Rede. Ich bin ganz ehrfürchtig.

die Schreibende: Hey, nicht nur, dass Du mich ständig unterbrichst, jetzt machst Du Dich auch noch über mich lustig. Das ist mir wirklich bedeutsam, was ich Dir erzähle.

Ich: Sorry, mein Kompliment hatte einen Unterton, ich gebe es zu. Ich spüre, wie bedeutsam das ist, was Du versuchst in Worte zu fassen. Vielleicht bin ich ja neidisch. Jenseits von Raum und Zeit. Jenseits von richtig und falsch. Vielleicht sollte ich mich auch mit Schamanismus beschäftigen.

die Schreibende: Nur zu. Allein die Beschäftigung mit dem Thema ist schon Horizont erweiternd.

Tun, was getan werden muss

Schon wieder hinke ich hinterher. Oder eile ich voraus?

Auf meiner To-Do-Liste steht beharrlich das Wort BLOG.

Da gibt es eine Textsammlung Frühstücksgespräche 1-2-3, datiert 4.- 6. Januar. Die Tage, wo der Säntis vor meinem Fenster hingegossen lag, ich schreiben durfte im Otto-Bruderer Haus, das Ivo Knill in einen Ort gewandelt hat, der zu kreativen Auszeiten einlädt. Ivo war da zum Schreiben, Arbeiten, Sein und ich auch.

04.01.2022

Nach dem gemeinsamen Frühstück kehre ich an meinen Schreibplatz mit Blick auf den Säntis zurück. Ich lasse den Stift absichtslos über das Papier gleiten.

Der Dampf steigt aus meiner Tasse auf, er bildet kleine Wirbel, große Wirbel, spiralt, tanzt, umarmt, gebärdet sich leicht und luftig. Für Momente nur ist er sichtbar, bis er sich auflöst.

Die letzten Gedanken aus unserem Frühstücksgespräch wirbeln wie der Dampf in meinem Kopf. „Es sind wohl die schweren Lebenserfahrungen, an denen ich gewachsen und gereift bin“, sagt Ivo, „aber es braucht doch auch das Glück, das neue Türen öffnet, damit das Leichte wieder einen Zugang findet“.

Und dieser Satz trifft auf den Dampf aus der Tasse, so bin ich plötzlich zwanzig Jahre alt, stehe im Kuhstall, der in der Tor-Weg Wohnung als Materialsammellager dient. Die Spiel- und Theaterwerkstatt Frankfurt hat ein Bibliodrama-Seminar angeboten. Vier Tage. Ich glaube an den heiligen Geist. Die blutjunge Psychologiestudentin zwischen lauter Theologen und Pfarrern.

Es ist Februar und eiskalt. Wir schlafen wir in der Knechtskammer und bauen uns Lager aus Matratzen und Decken, die da thronen auf den schwarz gestrichenen Dielen in der leeren Kammer. Wir, das ist diesem Fall Nulf, der mit mir die Matratzen hin und her schiebt und dabei mit seinem lila Federflauschschal wedelt. Ein extravaganter Typ, der erzählt, dass er in der Tiefe seines Herzens ein Kabarettist ist und ein eigenes Bühnenprogramm hat. Wir lachen viel und ich fühle mich wohl.

Im Workshop widmen uns jeden Tag einem Wort. Ich – glaube – heilig – Geist. Während wir improvisieren, suchen, spielen, bin ich ganz in meinem Element.  Jeder soll etwas mitbringen, was für ihn heilig ist.  Ich lande im Kuhstall, greife zu einem Wasserkessel aus Blech, ganz schlicht, laufe unter dem Torbogen auf die andere Seite in die Wohnung und mache das Wasser heiß. Der Dampf steigt auf, der Kessel fängt nicht zu pfeifen an. Schade eigentlich.

Am letzten Morgen wache ich in der Knechtskammer auf und alles dreht sich. Ruhig bleiben, flüstere ich mir zu, ganz ruhig bleiben, das geht gleich vorbei. Nur keine Panik bekommen. Ich versuche, ob es besser wird, wenn ich mich aufrichte, atmen, ich drohe gänzlich zu kollabieren. Ich wecke Nulf. Der holt Wasser und etwas zu essen. Nein, Essen doch nicht, bloß nicht essen. Da sich noch alles dreht, sterbe ich nicht. Also abwarten. Keine Aufregung. Nichts brauchen. Nicht in Tränen ausbrechen. Oder doch. Heimlich. Wenn alle weg sind. Aber vor allem nicht bewegen. Immerhin ist mein Zustand irgendwann so stabil, dass ich mir zutraue, einfach allein liegen zu bleiben, zu warten. Gänzlich unbekannt ist mir der Drehschwindel nicht. Diesmal schlägt er richtig zu. Die anderen bereiten ihre Abschlusspräsentation in kleinen Gruppen vor. Ich liege da und rühre mich nicht vom Fleck. Will ich zu viel, dreht sich wieder alles. Alles dreht sich, schreibe ich. Dann fließt ein Text in mein Tagebuch, in die Chinakladde mit Bergen, gezeichnet in orange und rosa und den goldenen Teehäusern auf dem Umschlag. Da wächst ein Vorhaben in meinem Kopf. Ich könnte doch aus dem Text meine Abschlusspräsentation machen. Nein, zu abwegig. Doch. Nein, zu intim, zu gewagt, zu gewollt, zu peinlich. Aber irgendwie auch nichts mehr zu verlieren. Ich habe das ALLES DREHT SICH überlebt. Der Dampf steigt aus dem Kessel während ich lese und inszeniere. Eine Türe geht auf.  

Hier überrollt mich eine Flutwelle der Dankbarkeit, weil die abgründigen Erfahrungen zu Geschichten gerinnen, in denen das Glück sich beheimatet, urplötzlich, mich ergreifend, ein Glück, das in einer Knechtskammer wohnt, in der wir unsere Ohren einander auf die Brustkörbe legen, tönen oder lauschen, bis wir ein großes vibrierendes Ganzes werden.

Der Säntis flirtet indes mit den Wolken, die ihn an der obersten Spitze kraulen, während gegenüber am Gasthaus Sternen die weiße Farbe von den Holzschindeln abblättert. Im halb geöffneten Fenster im Giebel bewegt sich die Gardine leicht, bevor alles wieder ganz still ist.

Vielleicht ist es der Geist aus der Flasche, der auch die Erinnerungen aus dem Wasserdampf leicht werden lässt, immer leichter fühlen sie sich an, die großen Brocken aus der Schatztruhe meines gelebten Lebens, in der die Steine beginnen zu schweben und das Heilige funkelt.

05.01.2022

Ist es der frühe Morgen, der unbeschriebene Tag oder das unbeschriebene Jahr, oder das Aufeinandertreffen von uns zwei Schreibenden? Was macht die Fragen groß? Wir versuchen Worte zu finden, uns heranzutasten, wieso wir machen, was wir machen.

Es ist Eines, dass wir beide stets den Stift in die Hand nehmen und die Momente des Glücks und des Suchens mitwandern lassen auf dem Papier.

Es ist ein Zweites, dass wir andere Menschen ermutigen, zu schreiben, um sich anrühren zu lassen von einem Leben, das sich in Worten herausschält. Genau dieses Unfertige, eben zu Papier gebrachte darf sich dann Lesend ereignen in dem Resonanzraum einer Gruppe. Der eigene Text stößt auf Menschen, die darauf reagieren, sich mitbewegen, sich widersetzen, ein- und aussteigen. Das ist groß.

Und es ist noch etwas Drittes, den eigenen Texten eine Bühne zu bereiten, sie anzuordnen, umzuordnen, in Zeit und Raum hinein zu gestalten und zu spüren, dass sie sich darin selbst behaupten, sich wandeln, ihre eigene Kreativität entwickeln.

Darüber sprechen wir, weil Ivo 26 Kurzgeschichten vorlesen wird an vier Wochenenden als ein stündliches Ritual, die nach dem Tod seines Bruders Franco entstanden sind. Wozu so ein Projekt, das vor allem Arbeit bedeutet? Für Ivo ist es ein Kreuzweg, bei dem er an jeder Station ein Licht anzündet. Es ist eine nochmalige Konfrontation mit dem Prozess, wo alles in Unordnung blieb, Ivo ständig mit dem Stift dabei, Ordnung zu schaffen. Es ist ein rituelles Abschreiten eines Raumes, weil es die Texte so wollen, weil es nicht anders geht, weil Ivo diese Anordnung wählen muss. So lauten die Antworten auf meine Fragen, wieso diese Form, die zeitlich raumgreifend ist. Vier Wochenenden in Folge hat Ivo sich diesem Vorhaben verschrieben. Ivo kommt gleichmütig daher, mag einer zuhören oder nicht, er wird die Texte lesen und sich dabei aufnehmen, als seinen Akt der Widmung? Oder was genau für ein Akt ist es, Texte zu lesen, die auf dem Boden gewachsen sind, die ein selbstgewählter Tod eines Bruders bereitet, über dem der Himmel dieses Bruders aufgegangen ist? Und welcher Notwendigkeit folgt die Inszenierung, die für Ivo gerade keine ist, da die Texte sich genau einer Inszenierung, einer Auswahl verweigert haben.

Und ich sitze hier im Haus und bereite mich darauf vor, auch ein Teil dieser Wochenenden zu sein, da an jedem Wochenende um 16 Uhr eine Gastlesung stattfinden wird. Die ungeschriebenen Briefe, der Text, auf den diese Einladung folgte, hat eine lange Reise hinter sich. Grundlage der Geschichte waren Briefe eines vor bald 30 Jahren verstorbenen Freundes. Daraus entwickelte sich eine Protagonistin, die aufbricht, bis nach Afrika reist, bis sie merkt, dass sie sich nicht entkommen kann. Sie konfrontiert sich mit den verschwiegenen Sehnsüchten nach dem fernen Geliebten, der nichts von seinem Glück weiß. Was heißt es für die junge Frau, mitten in der Fremde auf die Suche nach sich und der Liebe zu gehen?  Während Ivo der Priester ist, der seinen Gottesdienst hält, der etwas erfahren und feiern will, mögen wenige kommen oder viele, bricht bei mir diese 20-jährige aus, die spielen will und verschiedene Varianten einer szenischen Lesung im Wohnzimmer probt. Die Spielfreudige reist bis nach Afrika und zurück.

Womöglich sind es die anwesend abwesenden Toten, die uns zuflüstern, drittens tut ihr, was ihr tun müsst, auch wenn es Arbeit ist.

Unter http://www.ottobrudererhaus.ch/ finden sich alle Informationen zu den Lesungen.