ich: Stell Dir vor, ich habe gerade ein einstündiges Feature über die Wolken gehört auf BR2. Da kam sogar der Londoner Wolkenforscher vor. Ich weiß jetzt wie der heißt, Luke Howard, the godfather of the clouds, hat ihn mal jemand genannt.
die schreibende: Jetzt bist du wieder ganz im Glück, dass das Leben dir die Wolke reicht.
ich: Genau, kennst mich halt schon. Ich finde diese Art, wie das Leben meinen Gedankenstrom ungewollt füttert phänomenal. Wie unser poet to hire geschrieben hat:
cirrus und cumulus, in plaistow they named them
Und pass auf, es geht noch weiter. Im Radio Feature kam noch die Rede auf die Ausstellung Nebelleben in München, in der wir waren. Erinnerst du dich noch an Fujiko Nakaya, die 89-jährige Japanerin, die konsequent lebenslänglich an dieser Fusion von Kunst, Wissenschaft und Natur dran war, die mich mit ihren Nebelskulpturen total fasziniert hat.
die schreibende: Ich bin ja nicht dement, das war ja erst in den Pfingstferien. Natürlich weiß ich noch, wie wir auf Holzplattformen in einem gefluteten Haus der Kunst standen, es zu zischen begann, dann der aufsteigende Nebel, das Nichts, wo eben noch Wege und Menschen waren. Ich geb‘ zu, das war eindrücklich. Die zischenden Düsen und Stimmengemurmel. Statt noch was zu sehen, gab es nur noch was zu hören.
ich: Mich hat auch noch beeindruckt, auf diese Weise die Frage zu stellen, was Kunst ist und dafür zu sensibilisieren, wie wir als Menschen mit der Natur interagieren. Also frei nach Watzlawick, wir können nicht nicht Einfluss nehmen auf die Naturphänomene. Unsere bloße Präsenz, die Wärme unserer Körper beeinflusst die Nebelskulptur, wie weit sie aufsteigt und in welcher Geschwindigkeit sie kondensiert. Das ist natürlich nur exemplarisch. Wir interagieren ständig, ob konstruktiv oder destruktiv bleibt eine Frage der Perspektive.
die schreibende: Klingt bisschen weit hergeholt, aber immerhin hast du doch die perfekte Überleitung zu unserer nächsten Londoner Episode. Mit Liz in der Tate Modern.
4
Tate Modern ist der einzige Ort, der auf meinem Plan steht. Die Künstlerin in mir liebt Ausstellungen und ist in den letzten Jahren ziemlich kurz gekommen. Deshalb freut sie sich, als da ein eckiger Fabrikbau vor uns liegt, in dem früher Energie gewonnen wurde, der jetzt ein Museum beheimatet. Obwohl alles in London und England richtig viel Eintritt kostet, ist der Eintritt in die Tate Modern frei. Es ist kurz vor zwei und ich lese auf einem Schild, dass um 14 Uhr eine öffentliche Führung beginnt.
„Komm, das machen wir“, sage ich zu den Kindern und warte keine Antwort ab. Wir suchen den zweiten Stock im Blavatnik Gebäude, da soll der Treffpunkt sein. Da steht eine zierliche kleine Frau, ihre langen Haare zu zwei Zöpfen geflochten. Ein Tate Modern Anhänger, der ihr um den Hals hängt, weist sie als Mitarbeiterin aus. Dabei sieht sie aus wie ein Mädchen, dass verschickt wurde und darauf wartet, abgeholt zu werden. Ich frage nach der Führung.
„Ja“, sagt sie, „ihr seid richtig, ich mache die Führung, nur außer euch ist bisher noch niemand gekommen“. Oh je, denke ich mitfühlend und kann mir gar nicht vorstellen, wieso es keine Menschen gibt, die sich wie ich an die Hand nehmen lassen wollen. Sie schaut sich suchend um, sieht noch ein Paar, was in die Nähe kommt und indirekt interessiert schaut. Immer diese indirekten Annährungen. Die kleine Frau macht einen Schritt auf das Paar zu, lädt sie ein und das Paar bleibt in unserer Nähe stehen.
„Ich heiße Liz und mache diese Führung zum ersten Mal. Wir sind eine Gruppe von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen, die Führungen anbieten. Wir sind völlig frei, was wir uns dabei aussuchen dürfen.“ Bei dieser Aussage strahlt sie uns mit aufgeregt leuchtend blauen Augen an. Mittlerweile sind noch einige andere Menschen stehen geblieben, wir sind ein Grüppchen von 8 bis 10 Personen. Liz beginnt über das Gebäude zu erzählen.
„Der eine Teil, in dem wir stehen heißt Blavatnik, nach dem Oligarchen benannt, der aus der Ukraine stammt, aber in USA und England lebt und das ganze Gebäude finanziert hat. Er ist so reich, dass es viele Gebäude gibt, die nach ihm benannt sind, weil er sie gezahlt hat. Willst du, dass dein Name auftaucht, dann kaufe dir dein Ansehen über gute Taten“, sagt Liz als Feststellung, ohne jeden Zynismus, aber wohl doch im Wissen um Macht und Ohnmacht, in Abhängigkeit vom Besitz der Mittel. Ich merke, wie ich anders darauf reagiere, dass Blavatnik ukrainischer Abstammung ist, seit es den Angriffskrieg Russlands gibt und ich auf unzähligen Benefizveranstaltungen doch einiges an Wissen gesammelt habe, obwohl die Ukraine ein zuvor genauso unterbelichteter Ort auf meiner inneren Landkarte war, wir Kirgisistan, Lettland oder Tschetschenien, ja wie eigentlich alle Sowjet Republiken. Jetzt stehe ich in einem der renommiertesten Kunstmuseen, dass vollständig von einem ukrainischen Oligarchen finanziert wurde. Das muss ich erst einmal verdauen.
„Der andere Gebäudeteil heißt Natalie Bell, benannt nach einer englischen Aktionskünstlerin“. Da suchen die Engländer nach Ausgleich und das ist mir sympathisch. Liz möchte uns gern etwas aus dem Bereich Materials and Objects näherbringen.
„Die Tate Modern hat ihre Ausstellung nach Themen sortiert, nicht zeitgeschichtlich. Es gibt Themen wie Asien, Frauen, People of colour, Reisen, Tiere, Migration, die inhaltlich ausgerichtet sind“, zählt Liz auf, „aber ich bin fasziniert von dem Bereich Materialen und Objekte“.
Liz hat sich Karteikarten gemalt, die sorgfältig gestaltet aussehen, wenn ich einen Blick darauf erhasche, während sie vorträgt. Wir halten in einem Raum mit dem Urinal von Duchamp auf, the fontain.
„Duchamp hatte das Urinal unter einem anderen Namen als Ausstellungsobjekt bei der Gesellschaft der unabhängigen Künstler 1917 in New York eingereicht und wurde abgelehnt, woraufhin die Debatte entbrannte, was denn nun eigentlich Kunst ist und ob man ein Urinal aus dem Sanitärfachgeschäft zu Kunst erklären kann“. Liz ist ganz involviert in ihre Führung. Sie versucht uns mit einzubeziehen.
„Was glaubt ihr, was hättet ihr gemacht, wenn ihr im Entscheidungskomitee gesessen hättet?“ Die Antworten bleiben aus.
„Ich habe mich das selbst oft gefragt und ich bin mir nicht sicher, ob ich dafür gestimmt hätte“. Sie sagt es in einer Art, als würde sie bedauern, nicht von sich behaupten zu können, dass sie in jedem Fall so frei in ihrem Kopf ist, dass es für sie keine Frage wäre, das zu bejahen. Liz ist sichtlich begeistert von den revolutionären Fragen, die Duchamp mit seinem Ready Made dieser Art ausgelöst hat: Was ist eigentlich Kunst?
Während ich mich von ihrer durchringenden Art anstecken lasse, flüstert mir meine Tochter ins Ohr:
„Ich verstehe überhaupt nicht, wie sie so lange über so ein Ding sprechen kann?“ Liz stellt uns in der einen Stunde noch vier weitere Kunstwerke vor.
„Mama, die kann ja über jedes Kunstwerk so lange sprechen“, staunt und stöhnt meine Tochter und klinkt sich aus.
Ich bleibe dran!
Bei dem Kunstwerk Haegue Yang Sol LeWitt Upside Down – Structure with Three Towers, Expanded 23 Times, Split in Three 2015 fragt Liz wieder uns zuerst, wie wir das Kunstwerk empfinden. Was empfinde ich denn, wenn ich unter einer von der Decke schwebenden geometrischen Installation aus lauter Rollos herumlaufe? Es schwebt, es oszilliert, es ist leicht, es ist klar, es spielt mit dem Licht, es spielt mit mir, ich mag es. Vor allem mag ich vermutlich Liz, die mir ihre Zuwendung zu den Kunstwerken schenkt, die mich veranlasst zu bleiben und zu spüren und mir ihre Geschichten dazu anzuhören.
Ich lese noch einmal nach, was über das Kunstwerk Mark Dion Tate Thames Dig 1999auf der Website der Tate Modern Gallery zu finden ist. Vieles von dem hat uns Liz erzählt. Krass, was für einen Unterschied es macht, leidenschaftlich durch Lizs Stimme aufgefordert zu werden, mir Fragen zu stellen, als eine von unzähligen Ausstellungsinformationen zu überfliegen. Liz zeigt uns die Fundstücke, ausgegraben an den Ufern der Themse von Londonern, angeordnet wie archäologische Kostbarkeiten.
„Was ist kostbar genug, um in einer Wertigkeit suggerierenden Mahagoni Vitrine ausgestellt zu werden,“ fragt sie uns.
Die Schubladen mit den nach Materialen sortierten und angeordneten Fundstücken lassen sich herausziehen. Ich ziehe die Schublade mit den Keramikscherben heraus, die sich in ihrer farblichen Anordnung wie ein Mosaik zu einem Bild zusammenfügen. Scherben, Bruchstücke, Fundstücke.
„Grabt, findet Splitter, Scherben mit Bruchkanten, wendet Euch zu, aus dem Zusammenhang heraus, staunt über die Intensität der Fundstücke, sie fügen sich zu einem Bild zusammen“, höre ich mich Wochen später in meiner Schreibgruppe sagen. „Sie werden genau so wertvoll und groß, wie ihr sie wertvoll und groß sein lasst“. Wenn ich mir vergegenwärtige, wie viele Menschen wie viele Tage das Ufer abgegraben haben, dann weiß ich wieder, es braucht Zuwendung, Zeit, Zielstrebigkeit und sowohl Lust am Finden, als auch das Vertrauen, dass sich die Mühe lohnt.
Es geht noch weiter. Ich bleibe dran! Seamless heisst das nächste Kunstwerk von Sarah Sze bei dem sie aus Kabeln, Drähten, Streichhölzern, Sieben, Stangen, Löffeln, Pinseln ein um sich greifendes Gebilde in den Raum und in die Wände hineinwachsen lässt, in die dafür quadratische Löcher geschnitten wurden. Es hört nicht auf zu wachsen, selbst wenn wir es nicht mehr sehen, es gibt ein Werk hinter der Wand, ein Leben unter der Erde, ein Wachsen, das Räume verbindet. Liz holt Gegenstände aus ihrer Tasche, die sie mit sich herumgetragen hat und breitet sie vor uns aus.
„Was seht ihr?“, fragt sie uns. Den Inhalt der Schublade, in der sich alles sammelt, was keinen klaren Ort findet. Ganz klar. Und jetzt ein Kunstwerk, aus all diesen Materialen, die uns alltäglich umgeben, die herumfliegen, die in keine Kategorie passen. Mich rührt Lizs pädagogischer Einsatz, ihr Anschauungsunterricht. Mir gefällt es, wie eines ins andere übergeht, wie es nirgendwo aufhört und anfängt und doch voller Abenteuer und Geschichten steckt. Die Künstlerin schafft ein luftiges Gebilde, das mich an die Mobiles von Alexander Calder erinnert.
Ich erinnere mich, wie ich allein durch die Ausstellungshalle in Bonn streife in den neunziger Jahren, wie die Mobiles mich erregen, so wie es manche Werke tun, die auf etwas in mir treffen, das ich vielleicht Empfangsantennen oder Rezeptionsnerv nennen kann. Es ist tatsächlich eine Form der Erregung, ich bin aufgeregt und angeregt zugleich, dass sich in mir das in Material Verdichtete entschlüsselt und eine intime Begegnung stattfindet.
„Ich müsst Euch unbedingt noch die Ausstellung Performer und Participant anschauen im Natalie Bell Teil“, sagt Liz zu uns beim Abschied.
Noch mehr? Geht noch was? Wir gehen erst mal aufs Klo. Nein, es geht nichts mehr. Vor allem ich kann nicht mehr. Ich mache mich von der Hand los, an die Liz mich genommen hat und drücke auf die Pausentaste.
Das Feature zu den Wolken zu hören auf:
https://www.br.de/mediathek/podcast/bayerisches-feuilleton/bayerische-kraftplaetze-die-wolke/1877580