Sehnsucht Oktober 2015

Was die Sehnsucht mit Schneewittchen zu tun hat

Das Sprudeln der Ideen schwemmt mich ins Dickicht. Sie überschlagen sich und ich bekomme sie nicht zu fassen, die Ideen, um sie in Worte zu kleiden und sichtbar auf`s Papier zu bringen. Also gut, denke ich, start fresh ist auch eine Option und so fange ich an, mich aus dem Dickicht der Ideen herauszuschneiden.

Da bleiben die Orte ohne mich. Orte, die ich zurückgelassen haben und sie eine Sehnsucht in mir.

Sie heißen Kindheit im Dorf meiner Großmutter.

Die Züge am anderen Flussufer machen dieses unverwechselbare Geräusch, wenn sie auf den Gleisen zu vorgenommenen Zeiten durch die Landschaft spuren. Ein rhythmisches Klackern, Raunen, Rauschen, nein es ist kein Lärm, sie betten das Maintal und mich in einen Klang. Und erst der in der Luft liegende Geruch aus feuchter Erde und Wald, es ist gar kein Geruch, es ist die Luft selbst, die sich mit der hügeligen Landschaft angefüllt hat. Und es sind die Sterne am Himmel, so viel mehr Sterne als in der Stadt. Hier scheinen sie für mich, wenn ich in der Dunkelheit die quietschende Gartentüre schließe, die zur Unverwechselbarkeit dieses Klanggemäldes ebenso gehört wie die autoritären Kirchenglocken. Und dann der Duft in der Backstube, mitgenommen in der dünnen weißen Papiertüte, bis obenhin gefüllt, trage ich ihn mit beiden Armen umschlungen nach Hause zu meiner Oma. Ich beiße schon hinein und nur hier, weiß ich, an diesem einzigen Ort in der Welt, schmecken die Stöllchen so und nur hier heißen sie so. Ich zähle die Tage, bis wir wieder ins Dorf fahren.  

Sie heißen beginnende Jugend auf einer griechischen Insel.

Mein Radius wird größer. Es ist wie auf den Postkarten, weiß getünchte Häuser, blau gestrichene Fensterrahmen, kleine Gassen verwinkelt, das Meer rundherum das Meer und die faltigen sonnengegerbten Gesichter, der meist in schwarz gekleideten Männer, die vor dem Café am Tisch sitzen. Und es ist doch anders als auf der Postkarte. Und ich bin noch fast Kind und will doch schon eigene Wege gehen. Nach diesem Urlaub will ich griechisch lernen.

Sie heißen junge Erwachsene in Westafrika.

Der kürzere Weg zum Haus führt über die Old Railway Line, eines der vielen Vermächtnisse der britischen Kolonisation, eine eingleisige Eisenbahnbrücke übers Tal, die Geländer zum Teil weggebrochen, ein Relikt aus einer anderen Epoche, ein dem Verfall preisgegebenes Landschaftsdenkmal. Der längere Weg führt über die Straße am Hang, an der ich über Kerosin gebratene Planteens kaufen könnte. Und es gibt noch einen Weg durchs Tal, vorbei an aus Wellblech gezimmerten Häusern zwischen Palmen und Geröll.

Die geländerlose Brücke ist nicht so schmal, dass es mir direkt wie eine Mutprobe vorkommt, sie zu benutzen. Aber meine Phantasie weiß mehr, eine Gerangel mit Entgegenkommenden, ein verträumtes Stolpern. Das Prickeln bleibt, während ich die Brücke überquere, mich beheimate in der Fremde, im WE KNOW HOW TO ENJOY LIFE, in Sierra Leone.

Ein Lebensgefühl gekostet. Reisen und in anderen Ländern leben, sollte wie Zigaretten rauchen mit einem Hinweis versehen werden, kann lebenslänglich Gefühle von Sehnsucht und Unvollständigkeit auslösen.

Sie heißen Lebendigkeit beim Contact-Impro-Tanz.

Dein Gewicht spüren, einen kurzen Moment ganz durch mich hindurch und dann findet der Tanz eine neue Richtung, fällt, steigt auf, rollt sich aufwärts, bekomme ich Deinen Arm zu fassen, darf ich den Boden unter den Füßen verlieren auf Deinen Schultern, dann lauschen, inne halten, unseren bewegten Atem spüren, bis es sich fortsetzt, weil es weiter geht, neugierig, bewegungsfreudig, wach, sinnlich, nah, da, weit im Raum, in meinem Tanz, bis mein Tanz sich ohne Dich fortsetzt und eine zarte Berührung am Fuß das nächste Du ankündigt, fließend, forschend, ganz anders und womöglich ebenso beglückend.

Und Schneewittchen?

Es ist die Sehnsucht des Prinzen, die Schneewittchen wieder zum Leben erweckt. Sie war ihrer Gutgläubigkeit zum Opfer gefallen. Es ist eine herzerfüllende kopflose Liebe. Es ist seine Weigerung, Schneewittchen dem Tod zu überlassen. Im Angesicht des Verlusts lässt diese Liebe keinen Platz für Scham, Peinlichkeit und Stolz. Im Märchen kann die Liebe den Tod überwinden, kann die Endgültigkeit des Abschieds bezwingen.  Die Sehnsucht lässt die Toten und die Vergangenheit auferstehen. Ich bin das Kind, die Jugendliche, die junge Erwachsene, die Tanzende. Die Sehnsucht baut der Erinnerung und der Phantasie brücken. Ich liebe die Sehnsucht, weil sie mich verbindet. Mit Schneewittchen und dem Prinzen.

Oktober 2015